„Kinder brauchen die uneingeschränkte Liebe ihrer Eltern“, sagt Dr. med. Bodo Müller, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am
St.-Marien-Hospital in Düren-Birkesdorf. Im Gespräch mit der KirchenZeitung erklärt er, warum uneingeschränkte Liebe dennoch Grenzen kennt und wie wichtig es ist,
Regeln zu definieren und einzuhalten.
Herr Dr. Müller, lassen Sie uns über Liebe reden. Wie definieren Sie „Liebe“? Handelt es sich um ein großes Wort oder ein noch viel größeres Konzept?
Bodo Müller: Liebe ist ein Gefühl, das jeder Mensch kennen sollte. In erster Linie bedeutet Liebe, einen Menschen anzunehmen. Mit dieser Annahme ist ein sehr positives Gefühl verbunden, eine Art Glücksgefühl. Dieses positive Gefühl sollte jeder Mensch schon von klein auf spüren. Denn Kinder brauchen die uneingeschränkte Liebe ihrer Eltern, die Gewissheit, dass diese an sie glauben, dass sie etwas Besonderes sind.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang uneingeschränkt ?
Bodo Müller: Eltern sollten Kinder so annehmen, wie sie sind. Mit allen Besonderheiten. Hinzu kommt eine dem Alter des Kindes entsprechende, bedürfnisorientierte Zuwendung. Was braucht das Kind gerade? Neugeborene brauchen Wärme, Körpernähe, ein Stillen der Grundbedürfnisse. Aber vor allem ganz viel körperliche Nähe, uneingeschränkt. Wenn ich ein Kind stille, ist der Augenabstand beispielsweise optimal. Aber ich darf in diesem Augenblick nur beim Kind sein, nicht mit der anderen Hand kurz die Mails checken, meinen Blick abwenden. Neugeborene brauchen diesen Blickkontakt, ansonsten können sich im schlimmsten Fall Bindungsstörungen entwickeln.
Bekommen Kinder mit, wenn man anderen Gedanken hinterherrennt oder parallel noch etwas erledigt?
Bodo Müller: Kinder haben da sehr feine Antennen: Sie sind eine sehr sensible Pflanze, die sehr gut gepflegt werden will. Aber uneingeschränkte Liebe und Zuwendung geben auch viel zurück. Die Elternteile sind selbst glücklich, das Kind freut sich. Zur Uneingeschränktheit gehört auch, sich Zeit zu nehmen, zum Spielen und zum Vorlesen, um ein Kind zu versorgen und ins Bett zu bringen. Ja, es ist ebenfalls wahr, dass Kinder viel Arbeit sind, Stress machen. Sehr viel Stress. Eltern müssen das aushalten – und Kinder müssen mit dem Älterwerden lernen, dass es Zeiten gibt, in denen die Eltern weniger Zeit haben, auch ihre Aufgaben erledigen müssen. Das ist schwer, weil Kinder zunächst Zeiträume nicht einschätzen können.
Zu welcher Erziehungsmethode sollten Eltern auch in der stressigsten Situation nie greifen?
Bodo Müller: Abgesehen von jeder Form von Gewalt finde ich Liebesentzug ganz schlimm. Ein Kind muss auch Fehler machen können und gleichermaßen geliebt werden. Uneingeschränkte Liebe soll dadurch nicht kaputtgehen. Nur so kann ein Kind später selbst Liebe geben – so viel, wie es selbst bekommen hat. Ich erinnere hier gerne an das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn – ein Beispiel für uneingeschränkte, bedingungslose Liebe.
Kommt es nach wie vor zu Gewalt in der Erziehung?
Bodo Müller: Leider ja. Körperliche Gewalt ist aber nur ein Aspekt. Es müssen keine Schläge sein, um Gewalt auszuüben: Schon das Anschreien reicht, auch ein Kind nachzuäffen oder sich über das Kind lustig zu machen, ist eine Form von psychischer Gewalt. Wer bei sich selbst solches Verhalten wahrnimmt, erlebt eine Überforderungssituation. Viele Menschen haben oft selbst eine traumatische Vorgeschichte, sind total gestresst am Arbeitsplatz, leiden an einer psychiatrischen Erkrankung, sind dünnhäutiger. Aus meiner Sicht spricht aus solchem Verhalten immer auch eine gewisse Hilflosigkeit. Hier sollte Hilfe in Anspruch genommen werden.
Wie steht es um die Liebe der Partner zueinander? Leidet die, wenn es gilt, ein Kind aufzuziehen?
Bodo Müller: Man verzichtet auf sehr viel, von Beginn an. Ich empfehle allen Eltern, sich auch feste Zeiten füreinander zu nehmen. Zeiten, in denen die Arbeit außen vor ist, aber auch die Kinder. Zeit, in der sie sich nur als Paar haben, auch ohne andere Menschen oder Freunde. Die große Gefahr für die Liebe ist es, dass wir abends auf der Couch landen und die Glotze einschalten, oder nur auf die Smartphones schauen.
Was ist das Geheimnis für den Erhalt von Liebe?
Bodo Müller: Struktur und Alltagsroutinen.
Das klingt jetzt echt romantisch ...
Bodo Müller: Das klingt erst einmal überhaupt nicht nach Liebe. Ich verstehe darunter Strukturen und Routinen, die echte Zeit mit dem Kind, der Familie, dem Partner bedeuten. Ein gut organisierter Alltagsablauf ermöglicht mehr Zeit für diese schönen Momente. Kuscheln der Kinder am Wochenende mit den Eltern im Bett, Zeit für ein gemeinsames Frühstück. Zeit für Aktivitäten, bei denen im Mittelpunkt steht, was die Kinder wirklich machen wollen – und nicht das, wo sie am besten „mitlaufen“ können. Das sind oftmals nicht die Dinge, die wir Eltern am liebsten machen. Und natürlich auch Zeit für die Eltern als Paar (Essen gehen, ins Kino, Wellness beispielsweise).
Und die Routine? Wo kommt die her?
Bodo Müller: Es bedarf im Alltag klarer Absprachen: Wer ist für was zuständig? Wir sollten nicht nur Kindern ermöglichen, ruhige Situationen zu erleben, Momente, in denen Liebe zum Tragen kommt. Ist dies nicht der Fall, geraten Kinder schnell in eine Stresssituation, es wird Kortisol ausgeschüttet, das auch die neuronale Entwicklung negativ beeinflussen kann.
Heißt bedingungslose Liebe, alles durchgehen zu lassen?
Bodo Müller: Die Liebe ist bedingungslos, Erziehung muss bedürfnisorientiert, jedoch auch klar und stringent sein. Sonst bestimmen die Kinder permanent, wie das Leben zu laufen hat. Kinder brauchen Struktur, wie zum Beispiel ein schönes Abendritual, das ist ganz wichtig. Ab einem bestimmten Alter suchen Kinder Grenzen und benötigen diese auch. Das ist eine ganz natürliche Entwicklung. Zur Erziehung gehört es, für diese Struktur zu sorgen, Regeln zu definieren – aber auch zu wissen und zu erfassen, was das Kind denn selbst möchte. Gerade auch in der Phase des Erwachsenwerdens, in der Pubertät, ist das ganz wichtig. Ja, Erziehung ist anstrengend, es gibt viele Widerstände. Kinder lernen mit der Zeit – und müssen es lernen – , Frustrationen auszuhalten. Indem ich erzieherisch aktiv werde, trete ich in den Konflikt.
Haben viele Eltern es verlernt, diese Konflikte auszuhalten und verwechseln das mit uneingeschränkter Liebe?
Bodo Müller: Meine persönliche Überzeugung ist, dass Kinder, die nicht gelernt haben, Frustrationen auszuhalten, auch im beruflichen Leben nicht mehr so belastbar sind. Dabei ist angesichts der Debatte um die Generationen „X“, „Y“ oder „Alpha“ gar nicht entscheidend, wann jemand geboren ist, sondern, wer das Kind erzogen hat.
Am besten keine Helikopter-Eltern?
Bodo Müller: Kinder brauchen nicht ohne Wenn und Aber das, was sie sich wünschen, sondern Struktur und Verbindlichkeit. Dazu gehört es, im Haushalt mitzuhelfen, aber auch feste Zeiten, wann ins Bett gegangen wird. Es ist wichtig, durch Fehler zu lernen. Wenn wir unsere Kinder lieben, müssen wir ihnen ermöglichen, auch einmal zu scheitern. Es ist falsch verstandene Liebe, wenn ich versuche, alles zu vermeiden, was meinem Kind schaden könnte, wo es Frustration erfahren könnte, scheitern könnte. Diese Kinder lernen oft nicht, ihre Affekte zu regulieren, sind ungeduldiger. Auf der anderen Seite erwarten wir von Kindern in sozialen Situationen oft Dinge, die wir Erwachsene selbst nicht hinbekommen.
Wann wird Liebe in der Erziehung gänzlich falsch verstanden?
Bodo Müller: Zu viel Liebe im negativen Sinne bedeutet, keine Eingrenzungen mehr zu bekommen. Elternteil und Kind führen dann eine sehr symbiotische Beziehung, bei der alle Probleme aus dem Weg geräumt werden. Gerade diese Loslösungsprozesse haben mich schon zu Beginn meines Studiums beschäftigt. Kinder fangen sehr früh an, sich von der Mutter zu lösen, dies geschieht parallel mit dem Krabbeln und insbesondere dem Laufenlernen. Es ist ganz wichtig, dass Kinder ihre Umwelt selbstständig begreifen lernen. Sie sind nicht eins mit einem Elternteil, sondern müssen eigenständige Wesen werden. Eltern müssen ihre Kinder loslassen, damit diese ihre eigenen Erfahrungen machen können.
Liebe wird auch falsch verstanden, wenn notwendige Konflikte nicht ausgehalten werden. Kinder müssen weder wie Roboter funktionieren noch gedrillt werden. Aber es ist wichtig, Regeln zu setzen, diese zu erklären, bei Bedarf einen Warnschuss abzugeben und dann auch konsequent zu sein. Bei mir ist mal ein Geburtstag ausgefallen, weil ich zweimal nach der Schule nicht pünktlich nach Hause gekommen bin. Das Leben besteht aus Konsequenzen. Wollen Kinder ihren Schädel durchsetzen, muss ich als Elternteil dranbleiben. Kommt es aber zu einer Inkonsistenz in der Erziehung, also einmal so und einmal so, dann verstärken Eltern unbewusst das unerwünschte Verhalten oder Bedürfnis beim Kind. Es lohnt sich also, darüber nachzudenken, wo ich bewusst Grenzen setze und diese durchsetze – und wo ich lieber nichts sage, als immer nachzugeben. In diesem Sinne kann und sollte es nicht das Ziel sein, dass die Mutter die beste Freundin ist. Im Sinne der Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit müssen Kinder sich ab der Pubertät von ihren Eltern auch abgrenzen können.
Gibt es Dinge, die in Familien unter dem Deckmantel der Liebe geschehen, die Sie aber nachdenklich stimmen?
Bodo Müller: Ich kann es nicht verstehen, dass Kinder manchmal mit Geschenken und Konsumartikeln total überfrachtet werden. Es ist falsch verstandene Zuneigung und Liebe, wenn ich dem Kind das, was ich an Zeit nicht geben kann, vermeintlich mit materiellen Dingen zu kompensieren versuche, oder Kinder – um meine Ruhe zu haben – vor einem Tablet oder Fernseher „parke“.
Wie blicken Sie auf das Thema Medienkonsum?
Bodo Müller: Der Berufsverband der Kinder- und Jugendmediziner bemüht sich zwar, dass Kinder ohne elektronische Medien groß werden („Bildschirmfrei bis 3“). Aber unsere Kinder nutzen diese in vielen Fällen viel zu früh und werden dadurch mit viel „Schrott“ konfrontiert.
Mit welchen Auswirkungen?
Bodo Müller: Die permanente Zweidimensionalität mit ultrakurzen Bildfolgen verändert unsere Aufmerksamkeitsspanne, beeinflusst diese negativ. Auch auf die Sprachentwicklung hat dies negative Auswirkungen. Viele Medien für Kinder sind so gestaltet, dass ständig Alarm herrscht. Dabei wissen wir mittlerweile recht genau, was im Gehirn passiert. Im Belohnungszentrum wird Dopamin freigesetzt, somit haben diese Medien ein Suchtpotenzial wie Kokain. Was Kinder weiterbringt, sind Vorlesen, Interaktion mit Bezugspersonen. Was Kinderohren wirklich brauchen, sind fünf Sätze: 1. Ich habe dich lieb! 2. Ich glaube an dich! 3. Gut gemacht! 4. Du bist etwas Besonderes! 5. Ich bin stolz auf dich!