Nicht ohne Muttersprache

Das Projekt „Wikibiblia“ nützt Bibeltexte in mehreren Sprachen zum Sprachunterricht für Flüchtlinge

Texte Nachricht (c) Andrea Thomas
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Datum:
24. Okt. 2017
Von:
Andrea Thomas
Stellen Sie sich vor, Sie müssten eine fremde Sprache lernen, die so gar nichts mit Ihrer Muttersprache gemeinsam hat – nicht mal die Schrift.
Butzkamm (c) Andrea Thomas
Butzkamm

Der Unterricht findet (natürlich) in der jeweiligen Sprache statt und auch das Lehrmaterial ist komplett einsprachig. Ihre Muttersprache spricht in Ihrem Kurs so gut wie keiner, und andere Fremdsprachen funktionieren als Brücke auch nicht so richtig. Dann wissen Sie jetzt ungefähr, wie sich eine Vielzahl von Flüchtlingen im Deutschkurs fühlt.

„Alles-auf-Deutsch“ ist auch für Wolfgang Butzkamm ein Unding: „Im digitalen Zeitalter eine Rücksichtslosigkeit, die immer noch als Methode firmiert. Der einsprachige Ansatz ist gerade für Anfänger und Sprecher von aus unserer Sicht ,exotischen‘ Sprachen grundverkehrt. Viele Schülerinnen und Schüler scheitern.“ Er weiß, wovon er spricht, nicht nur weil er seit rund zwei Jahren über das Nachbarschaftsnetzwerk „Indella“ in Aachen-Kornelimünster selbst ehrenamtlich Deutschunterricht für Flüchtlinge gibt und solche Fälle da selbst erlebt. Fremdsprachen- didaktik war und ist sein Fachgebiet. Von 1974 bis 2003 war Wolfgang Butzkamm Inhaber des Lehrstuhls für Englische Sprache und ihre Didaktik an der RWTH Aachen, hat selbst am Gymnasium und an der Gesamtschule unterrichtet, zahlreiche Bücher zu dem Thema verfasst und sich auch intensiv mit dem Thema „Deutsch als Fremdsprache“ beschäftigt.

Warum er für einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel im Fremdsprachenunterricht plädiert, erklärt der emeritierte Professor für Sprachwissenschaften so: Über unsere Muttersprache lernen wir, uns zu artikulieren, mit anderen zu kommunizieren, zu denken und unser Denken in Worte zu fassen. Über sie lernen wir, was Grammatik ist und wie Satzbau funktioniert. „Die in der Erstsprache heranreifende Sprachlichkeit des Menschen ist das Fundament unserer Selbstwerdung und der größte Aktivposten des Fremdsprachenlernens. Die Muttersprache ist das Instrument zur Erschließung fremder Sprachen.“ Daher sollte die Muttersprache nicht wie bisher als „Störfaktor“ oder „Nothelfer“, sondern als „Geburtshelfer“ der Fremdsprache gesehen werden. Auf seiner Internetseite (www.fremdsprachendidaktik.de) prangert Wolfgang Butzkamm mit Leidenschaft an, was da aus seiner Sicht im Fremdsprachenunterricht, und insbesondere auch bei Sprachkursen für Flüchtlinge, schief läuft. Seine Verbesserungsvorschläge sind unter anderem: Extra-Vokabelanhänge für die gängigen Lehrbücher, nach Lektionen geordnet, in verschiedenen Muttersprachen; Auszeiten während des Unterrichts, in denen sich Lerngruppen mit gleicher Muttersprache untereinander über das austauschen können, was sie nicht verstehen; die Einbindung von Youtube-Videos zu grammatischen Problemen in der Muttersprache der Schüler; wo möglich Sprachklassen mit Schülern gleicher Muttersprache und Übersetzungen ehemaliger Schüler von ausgewählten guten Texten in ihre jeweiligen Muttersprachen, um damit im Unterricht zu arbeiten.

 

Über Bibeltexte unsere Sprache und unsere Kultur verstehen lernen

Zu dem letzten Punkt hat er selbst ein Projekt gestartet. Über die Internet-Plattform „Wikibiblia“ möchte er nach und nach Übersetzungen von biblischen Texten in einfacher Sprache für den Deutschunterricht mit Flüchtlingen zur Verfügung stellen. Die Idee: „Die Bibel ist bereits in viele Sprachen – auch aus dem arabischen Raum – übersetzt worden. Das könnte als Grundlage für einfache, verständliche Übersetzungen dienen, über die die deutsche Sprache und ihre Grammatik für die ausländischen Schüler nachvollziehbarer wird.“ Außerdem biete der Ansatz die Möglichkeit, Menschen, die fremd in unserem Land seien, möglicherweise selbst einer anderen Religion angehörten, etwas über unseren christlichen Glauben und unsere Kultur zu vermitteln. „Das Christentum ist unser Erbe und Teil unserer Kultur, hat Musik, Literatur, Kunst und Baukunst maßgeblich mit geprägt“, sagt Wolfgang Butzkamm.

Mit Missionierung habe das nichts zu tun, das liege ihm fern, betont der selbst aktive Protestant. Vielmehr damit, verstehen zu wollen, „wie der andere tickt“. Immer wieder werde er von Flüchtlingen darauf angesprochen, was wir an Weihnachten oder Ostern feiern. Da bestehe ein großes Interesse. So ließen sich über ausgewählte Bibeltexte wie die Geschichten vom barmherzigen Samariter oder vom verlorenen Sohn, über das Weihnachtsevangelium oder die Emmausgeschichte gleich mehrere Anliegen transportieren. So weit die Idee. In der Praxis entpuppt sich „Wikibiblia“ gerade als etwas aufwendiger und schwieriger zu realisieren, als er gedacht und gehofft hatte. „Es ist gar nicht so leicht, gute Übersetzer zu finden“, sagt Wolfgang Butzkamm mit einem leichten Seufzer. Die müssten zum einen gut in ihrer Muttersprache und deren Grammatik, aber auch im Deutschen zu Hause sein, und so ganz unaufwendig seien die Übersetzungen auch nicht. Den Texten in deutscher Sprache liegt das Konzept der „leichten Sprache“ zugrunde: kurze Sätze, möglichst nur ein Gedanke pro Satz. In den Übersetzungen werden die Sätze jeweils nebeneinander gestellt, über farbliche Hervorhebungen sollen die Strukturen der deutschen Sprache veranschaulicht werden.

 

Migranten können Migranten durch ihre Übersetzungen helfen

Für einige Texte stehen bereits Übersetzungen in Arabisch, Farsi, Urdu, Russisch, Polnisch, Bulgarisch sowie Englisch und Französisch zur Verfügung. Ein erster Anfang, aber auf jeden Fall noch ausbaufähig. Dazu sucht Wolfgang Butzkamm noch freiwillige Helfer, beispielsweise Migranten, die inzwischen gut Deutsch können und so etwas weitergeben möchten von der Hilfe, die sie bekommen haben. Oder jeder andere, der Lust und Zeit hat, auf diesem Weg Menschen das Ankommen bei uns zu erleichtern.

Mehr zum Projekt im Internet: www.wikibiblia.de.

Wer Wolfgang Butzkamm unterstützen will, erreicht ihn per E-Mail: wbutzkamm@web.de.

Texte (c) Andrea Thomas