Nicht allein Corona wegen

Immer wieder wurde der regelmäßige Turnus der Aachener Heiligtumsfahrt unterbrochen – zuletzt 1945

Der Dom steht noch! Das gab 1945 manchem Kraft, der angesichts der Verwüstungen ringsum zunächst den Mut verlieren wollte. (c) KiZ-Archiv
Der Dom steht noch! Das gab 1945 manchem Kraft, der angesichts der Verwüstungen ringsum zunächst den Mut verlieren wollte.
Datum:
29. Juni 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 26/2021 | Ruth Schlotterhose

„Im Dom ruht der große Kaiser und hält die schützende Hand über seine der Gottesmutter geweihte Stadt und ihren Dom bis zur nächsten Heiligtumsfahrt 1944.“ So konnte man in der KirchenZeitung für das Bistum Aachen vom 20. Juni 1937 lesen. Doch dann nahm die Geschichte ihren Lauf…

Bei der sogenannten „kleinen Heiligtumsfahrt“ von 1945 wurden die vier großen Heiligtümer nur im Oktogon des Doms gezeigt. Der Zutritt zur Chorhalle mit ihren zerbrochenen Glasfenstern war zu der Zeit noch durch eine Bretterwand versperrt. (c) Domkapitel Aachen
Bei der sogenannten „kleinen Heiligtumsfahrt“ von 1945 wurden die vier großen Heiligtümer nur im Oktogon des Doms gezeigt. Der Zutritt zur Chorhalle mit ihren zerbrochenen Glasfenstern war zu der Zeit noch durch eine Bretterwand versperrt.

„Die sogenannte Heiligtumsfahrt wird wohl erst im 11. oder 12. Jahrhundert ihren Anfang genommen haben“, schreibt Christian Quix, Leiter der Stadtbibliothek Aachen, im Jahr 1825. „Vorher sollen die Reliquien am Mittwoch nach dem Pfingstfeste jährlich in der Kirche gezeigt oder ausgestellt worden sein.“ Überliefert ist der siebenjährliche Turnus der Aachener Heiligtumsfahrt seit dem Jahr 1349.

Blickt man jedoch in der Zeit zurück, so erkennt man, dass es durchaus nichts Ungewöhnliches ist, wenn der Sieben-Jahres-Rhythmus der Aachener Betefahrt unterbrochen wird. Sehr oft waren Kriegswirren oder Besatzungen die Ursache, manchmal aber auch ansteckende Krankheiten. So ist es 2021 die Corona-Pandemie, die Anlass zur Verschiebung der Heiligtumsfahrt ist. Unsere Vorfahren waren da allerdings anders aufgestellt. „Im Jahre 1503 starben allein in der Jakob-straße zu Aachen mehr als 200 Personen an der Pest, die Glocken zersprangen wegen des häufigen Totengeläutes und mussten neu gegossen werden“, schreibt der Jesuit Stephan Beissel. Trotzdem fand die Heiligtumsfahrt statt.

Allerdings sind sich die Geschichtsschreiber nicht immer einig. So schreibt besagter Stephan Beissel: „Da zu den Kriegsbedrängnissen und Religionswirren eine ansteckende Krankheit hinzutrat und viele Menschen dahinraffte, musste im Jahre 1580 die Heiligtumsfahrt ausfallen.“ Wohingegen der Direktor des Diözesanarchivs Heinrich Schiffers 1930 behauptet, dass die Aachener Heiligtumsfahrt „nicht einmal im Jahre 1580 ausfiel, als zu innerem Hader und äußeren Kriegen eine verheerende Seuche hinzukam“. Allerdings muss er zugeben, dass diese Umstände „doch die Veranstaltung zeitweise sehr stark hemmten und ihr für immer den größten Teil ihrer Weltgeltung nahmen“. Beide Herren nehmen Bezug auf die Aachener Religionsunruhen, in der es zu teilweise bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den katholischen und evangelischen Bürgern der Freien Reichsstadt Aachen kam.

Eine nur geringfügige Verschiebung erlebte die Heiligtumsfahrt im Jahr 1692 während des Pfälzischen Erbfolgekriegs. König Ludwig XIV. von Frankreich hatte 1688 mit seinen Truppen den Rhein überschritten und war in die Kurpfalz und das Rheinland einmarschiert. 


Zur Strafe schickte der Himmel ein Erdbeben

Über die Verlegung der Heiligtumsfahrt 1692 schreibt der Aachener Kanonikus Johann Hubert Kessel: „Die Feier wurde nicht in herkömmlicher Art gehalten. Sie sollte anfangs wegen der Kriegsunruhen, die damals herrschten, gar nicht stattfinden; dies erregte aber unter der Aachener Bürgerschaft einen solchen Unwillen, dass das Kapitel in Verbindung mit dem Rat sich genötigt sah, die Zeigung der großen Heiligtümer am 8. September des Jahres (Mariä Geburt) nachzuholen.“ Hiermit, sagt der Aachener Archivarius Karl Franz Meyer, ließ sich zwar der Bürgersmann befriedigen, aber der Himmel nicht: Denn am 18. September des Jahres „erfolgte ein so gewaltiges Erdbeben, dass der Turm der Augustinerkirche schief gebogen und drei Monate später durch einen heftigen Windstoß umgeworfen wurde“. Zu allem Überfluss kam auch noch eine extreme Teuerung des Getreides hinzu.

Hin und wieder wurden Heiligtumsfahrten auch ersatzlos gestrichen, zum Beispiel im Jahr 1797. Damals befand sich der infolge der französischen Rheinlandbesetzung 
geflüchtete Reliquienschatz noch im Kapuzinerkloster zu Paderborn. Von dort kehrte er erst 1804 wieder zurück.

Laut Heinrich Schiffers verursachte der Weltkrieg die längste Unterbrechung in der Geschichte der Aachener Heiligtumsfahrt: „In den Jahren 1916 und 1923 musste ihre Veranstaltung unterbleiben; von Oktober 1918 bis Februar 1922 waren die Heiligtümer wieder nach Paderborn geflüchtet.“ Innenpolitische Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen mit Besatzern machten die turnusmäßige Heiligtumsfahrt 1923 unmöglich. Sie wurde zwei Jahre später anlässlich der 1000-jährigen Zugehörigkeit der Rheinlande zum Reich nachgeholt; mit Absicht ist man 1930 wieder zum alten Turnus zurückgekehrt.


Die sogenannte „kleine Heiligtumsfahrt“ anno 1945 

Natürlich konnte auch 1944 die Heiligtumsfahrt kriegsbedingt nicht stattfinden. Der Aachener Domschatz wurde im September 1939 nach Bückeburg ausgelagert. Prälat Anton Josef Wäckers (†2007) erzählt über den Abtransport: „Die Zeit hatte nur gereicht, um die vier großen Heiligtümer dem Marienschrein zu entnehmen.“ Weil die Vertreter der Stadt 1937 nicht bei der Öffnung und Schließung des Schreins zugegen waren, sah sich das Domkapitel in diesem Fall berechtigt, vor der Öffnung des Marienschreins keine Einladung an die Stadt ergehen zu lassen. Die Tuchreliquien wurden an einem nur wenigen bekannten Ort im nördlichen karolingischen Treppenturm verborgen, der Marienschrein reiste mit den übrigen Stücken des Domschatzes nach Bückeburg.

Nach Zwischenstationen in Meißen und Siegen konnte der Domschatz dank des tatkräftigen Einsatzes amerikanischer Streitkräfte am 26. Mai 1945 nach Aachen zurückgeführt werden. Als Akt der Dankbarkeit für die Rettung der Reliquien fand kurz darauf trotz der Not der Zeit vom 19. bis 22. Juli 1945 eine sogenannte „kleine“ Heiligtumsfahrt statt. In der ersten Ausgabe der KirchenZeitung für das Bistum Aachen nach dem Krieg vom 30. Mai 1946 war zu lesen: „Am 19. Juli 1945 kündeten wehende Banner und Fahnen, kündete festliches Geläut der Domglocken in Aachen den Beginn der Heiligtumsfahrt an.“ Überraschend war die große Zahl der Pilger, die den Dom von morgens bis abends füllten. Zu der Zeit konnten öffentliche Verkehrsmittel noch nicht benutzt werden, Verpflegung musste mitgebracht werden. Die meisten Beter waren vom Kriegsgeschehen und seinen Folgen gezeichnet.

Selbstverständlich nahm die Stadt ihr Kustodienrecht bei der Verschließung der Heiligtümer in den Marienschrein wieder wahr. Ein passendes Vorhängeschloss war in Aachen nicht aufzutreiben, laut Prälat Wäckers konnte erst in Köln eines besorgt werden. Unter den wenigen Bewohnern Aachens fand sich ein schon betagter Graveurmeister, Josef Wilms, der es als eine Ehre ansah, aus einem Fünfmarkstück die Deckplatte für das grobe Schloss anzufertigen. So erhielt das neue Schloss ein Aussehen, dass des ehrenvollen Zwecks, dem es diente, wenigstens einigermaßen würdig war. 
1951 wurde der regelmäßige Turnus der Heiligtumsfahrten wieder aufgenommen – bis zum Jahr 2021.

 

Quellen

Beissel SJ, Stephan: Die Aachenfahrt. Verehrung der Aachener Heiligtümer seit den Tagen Karls des Großen bis in unsere Zeit, Herdersche Verlagsbuchhandlung, Freiburg im Breisgau 1902

Bock, Franz: Der Reliquienschatz des Liebfrauen-Münsters zu Aachen in seinen kunstreichen Behältern, zum Andenken an die Heiligthumsfahrt von 1860
beschrieben und mit vielen Holzschnitten erläutert von Dr. Fr. Bock
Aachen, 1860

Katholische Kirchenzeitung für das Bistum Aachen, Nr. 25 vom 20. Juni 1937

Kirchenzeitung für das Bistum Aachen, Nr. 1 vom 30. Mai 1946

Kessel, Johann Hubert: Geschichtliche Mittheilungen über die Heiligthümer der Stiftskirche zu Aachen nebst Abbildung und Beschreibung der sie bergenden Behälter und Einfassungen. Festschrift zur Heiligthumsfahrt von 1874
Köln und Neuss, Druck und Verlag der L. Schwann’schen Verlagshandlung 1874

Lambertz, J.: Die „kleine Heiligtumsfahrt“ 1945 (Exp. Nr. 201/2019)

Meyer, Karl Franz: Aachensche Geschichten, Mülheim am Rhein, 1781

Quix, Christian, Oberlehrer: Historische Beschreibung der Münsterkirche und der Heiligthums-Fahrt in Aachen, nebst der Geschichte der Johannisherren, M. Urlichs, Aachen 1825

Schiffers, Heinrich, Dr.: Kulturgeschichte der Aachener Heiligtumsfahrt, Gilde-Verlag GmbH, Köln 1930

Wäckers, Anton Josef: Erlebte und gelebte Kirche von Aachen, Einhard-Verlag, Aachen 1995

Wynands, Dieter P. J.: Geschichte der Wallfahrten im Bistum Aachen, Veröffentlichungen des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen, Band 41, Einhard-Verlag, Aachen 1986