Beginnend mit Starkregen nahm in der Nacht zum 14. Juli die Katastrophe ihren Lauf. Die Böden waren nach dem verregneten Sommer gesättigt, Flüsse liefen voll, die Wassermassen verwüsteten Städte wie Stolberg und Eschweiler. Privat blieb Christian Hohmann von der Jahrhundertflut verschont, als Krankenhausseelsorger am St.-Antonius-Hospital Eschweiler stand er bei der Entschuttung des überfluteten Hospitals mit in der ersten Reihe. „Es ist ein Wunder, dass im Haus niemand gestorben ist“, blickt der 63-jährige Pastoralreferent demütig auf die Katastrophe zurück und ist bis heute dankbar für die Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft, die der Flut folgte.
Was haben Sie heute vor Augen, wenn Sie an die Flut denken?
Ich sehe Schuttberge, die sich nach Tagen im Hinterhof aufgetürmt haben. Eimer um Eimer haben wir das Wasser ausgeschöpft, später den Schutt geschleppt, dann den Estrich ausgestemmt. Zwei bis drei Wochen waren vom Chefarzt bis zum Krankenhausseelsorger alle bis zum Umfallen im Einsatz. Ich habe das Gesicht des Baggerführers vor Augen, der Tag und Nacht unentgeltlich im Einsatz war, ein Rentner, der unendlich Container versetzt hat. Es war ein unglaublicher Einsatz von Menschen, die tagsüber im Krankenhaus geschippt und gestemmt haben und abends zu sich selbst und ihren Verwandten gegangen sind, um dort zu helfen. Viele waren doppelt betroffen und doppelt belastet.
Wo waren Sie selbst, als das Wasser kam?
Nicht im Krankenhaus. Wir wohnen am höchsten Punkt von Würselen, blieben also zum Glück verschont. Aus den Medien habe ich vom Ausmaß der Katastrophe erfahren, den Pastor angerufen, und wir haben uns verabredet, wir wollten helfen. Bereits in der Nacht wurden die Patienten der Intensivstation mit dem Hubschrauber ausgeflogen. Morgens haben wir erlebt, wie Bauern mit Traktoren Feuerwehrleute durch die überfluteten Straßen gefahren und auf Strohballen sitzende, gehfähige Patienten evakuiert haben. Liegende Patienten wurden nachmittags bei sinkendem Wasserstand in Rettungswagen verladen und in umliegende Krankenhäuser verlegt. Es gab keine Aufzüge, keine Elektrogeräte, keine Aggregate – das Krankenhaus war wie tot und wir alle wateten durch Fäkalien und Öl und begannen mit dem Ausschippen.
Wann waren Sie Hilfskraft – und wann Seelsorger?
Dass auch der Seelsorger Hilfskraft wurde, ging automatisch. Das Krankenhaus gehörte bis 2019 der Kirchengemeinde St. Peter und Paul, es ist „unser“ Antonius-Hospital in Eschweiler. Obwohl viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter privat selbst betroffen waren, halfen sie auf der Arbeit mit. Die Identifikation mit dem Haus ist enorm hoch. Die Seelsorge gesellte sich automatisch hinzu. In den Pausen hatte ich ein offenes Ohr, bekam viel von der existenziellen Angst der Menschen mit, dass es das Krankenhaus nicht mehr geben könnte. Heute weiß ich, dass es rein bautechnisch gesehen eng war, ein Schimmelbefall konnte rechtzeitig verhindert werden.
Der Seelsorger hat im Berufsalltag selten eine Schippe in der Hand, eine so enge Form der Mitarbeiterseelsorge gibt es sonst nicht. Seelsorge kommt eher en passant zum Tragen, beispielweise wenn jemand ein persönliches Schicksal zu verkraften hat. In dieser Form und Intensität, mit vielen existenziellen Ängsten, war es auch für mich neu. Ich habe keine frommen Predigten gehalten, aber ich stehe, glaube ich, mit der Einschätzung nicht allein da, dass wir mehr Schutzengel hatten, als wir zählen können. Es ist ein Wunder, dass wir alle Patienten lebend rausbekommen haben.
Wo hat sich Kirche in der Katastrophe eingesetzt?
An ganz vielen Orten und in ganz vielen Arten. Der Caritasverband und unser Generalvikar haben innerhalb kürzester Zeit ein System eingerichtet, um Notfälle aufzufangen und unkompliziert Hilfe leisten zu können. Es wurden Hotlines geschaltet und Kontaktbüros eröffnet. Ich konnte innerhalb von Tagen Adressen und Telefonnummern von Betroffenen weiterleiten, denen auch geholfen wurde. Das war vorbildlich, das fand ich bewundernswert.
Verändert eine kollektive Schreckenserfahrung unser Zusammenleben?
Ganz früh haben die Vereine aus Eschweiler mit angepackt. Plötzlich tauchten auch Leute auf, die zuvor nie jemand gesehen hat. Sie kamen aus Hamburg oder Mainz, schlugen ihr Zelt auf und legten los, weil sie in den Medien gehört haben, dass ein Krankenhaus abgesoffen ist. Die Solidarität war groß. In einer Krise wird zusammengerückt. Eine Krise weckt Kräfte, die man selbst nicht erahnt hat. Besonders das Zusammenarbeiten und der Zusammenhalt der Mitarbeiterschaft wurde durch diese intensive Erfahrung bereichert.
Gab es Augenblicke, die Sie überrascht haben?
Bei der Maloche herrschte beizeiten auch große Fröhlichkeit, eine Art Galgenhumor. Wir wateten durch eine gefährliche Brühe. Und dennoch standen wir gemeinsam mitten im Chaos und haben zusammen Unglaubliches bewegt. Irgendwann hat jemand beim Entschutten gerufen: „Ich hab‘ die Gesetzestafel von Mose gefunden, soll ich die auch hochholen oder lassen wir die unten?“ Ich hatte die ganzen Wochen Kapitel 43, Vers 2 aus dem Buch Jesaja in meinen Gedanken: „Wenn du durchs Wasser schreitest, bin ich bei dir, / wenn durch Ströme, dann reißen sie dich nicht fort. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst du nicht versengt, / keine Flamme wird dich verbrennen.“ Der Glaube hat einem Kraft gegeben.
Kann es überhaupt Spiritualität an einem Ort der Zerstörung geben?
Kurz nach der Flut kam der Architekt des Krankenhauses auf mich zu. Er hatte den Osterkerzenleuchter aus dem Verabschiedungsraum, wo die Toten zum Abschiednehmen aufgebahrt werden, aus dem Schutt gerettet. Später brachte das THW das Kreuz aus diesem Raum. Es war wie ein Zeichen der Hoffnung. Die Helfer brachten immer mehr Kreuze aus den Souterrain-Räumen zur Pforte. Im Hof standen 50 Container voller Schutt, aber die Menschen haben aus dem Dreck die Kreuze gerettet. Das hat mich angerührt.
Auf welche Frage haben Sie auch heute keine Antwort?
„Warum hat uns der Herrgott verlassen? Warum werden wir gestraft und heimgesucht?“ Diese Fragen kamen in Augenblicken der Erschöpfung auf, bei Vier-Augen-Gesprächen. Damals wie heute kann ich darauf keine Antwort geben. Die grau-same Realität ist, dass wir von einer Katastrophe heimgesucht wurden, die niemand verdient hat.
Hat sich ihre Arbeit als Seelsorger infolge der Flutkatastrophe verändert?
Nach zwei Jahren kommen bei vielen Menschen „normale“ Schicksalsschläge hinzu. Jemand erleidet einen Herzinfarkt, ein anderer wird arbeitslos. Ich merke, dass dies für manche zu viel wird, dass sie der Verzweiflung nahe sind. Aus den Medien ist die Flut von 2021 verschwunden, aber vor Ort sind längst nicht alle Schäden repariert, alle Wunden verheilt, alle Schicksalsschläge verkraftet. Die Schultern der Menschen sind zu voll. Ich selbst bin schon demütig geworden, dass wir Menschen nicht alles können. Wir hatten Glück im Unglück.
Das Gespräch führte Stephan Johnen.