Für den Erhalt der Dörfer, die dem Tagebau weichen soll(t)en, wurde in der Vergangenheit viel demonstriert. Die letzten Kundgebungen anlässlich der Entwidmung der Kirchen in Keyenberg und Kuckum sowie der Kapelle in Berverath schlugen auch nach
einem Bericht in der KirchenZeitung hohe Wellen. Aber wie geht es eigentlich den Menschen, die ihre Häuser bereits verlassen haben und nun im neuen Dorf wohnen? Zeit für einen Ortsbesuch.
Beate Zurmahr will nach vorne sehen. „Irgendwann muss man abschließen und neu anfangen“, sagt die 58-Jährige. Ihr Neuanfang begann 2016, drei Jahre vor dem Einzug in das neue Haus in Neu-Kuckum. „Als Kuckum 2016 den Umsiedlerstatus erhielt, war für uns klar, dass wir gehen werden“, sagt sie. „Ich wollte nicht in einem sterbenden Ort leben.“ Die Entscheidung hat wenig mit mangelndem Kampfwillen zu tun und sehr viel mit Psychenhygiene. Mit Mann und zwei Söhnen wohnt die 58-Jährige nun in Neu-Kuckum. Das Haus hat die Familie so geplant, dass Beate Zurmahr mit ihrem Mann auch im hohen Alter dort noch wohnen kann. Eine Chance, die viele Umsiedler genutzt haben.
85 Prozent der alten Dorfgemeinschaft seien schon umgezogen oder würden es in den kommenden Jahren machen, beobachtet Zurmahr. „Und keiner ist gegangen, weil er weg wollte“, sagt sie. Sie hätten gekämpft, viele Jahre. An ihrer ersten Demonstration gegen den Tagebau und die damit verbundenen Umsiedlungen habe sie im Alter von 21 Jahren teilgenommen. 1985 war das. „Damals wurde eine lückenlose Fackelkette rund um den Tagebau organisiert“, erinnert sie sich. Die Erkelenzer Zeitung berichtete am
24. Juni 1985 von dem Ereignis. Über 4000 Menschen hätten sich über 33 Kilometer rund um das damals noch geplante Abbaugebiet aufgestellt – trotz anhaltenden starken Regens. In Kückhoven sollen die Demonstranten gesungen haben. Die Kirchenglocken gaben um 23 Uhr das Zeichen, die Fackeln anzuzünden.
Der dauernde Kampf und die Unsicherheit, ob die Dörfer nun stehen bleiben oder nicht, zehrten an den Nerven. „Bei jedem Geburtstag, jedem Schützenfest und jeder Veranstaltung ist die Umsiedlung ein Thema“, sagt Zurmahr. „Das stresst schon.“
Ob Keyenberg, Kuckum, Berverath, Unter- und Oberwestrich tatsächlich dem Tagebau weichen müssen, ist derzeit noch unklar. Die vergangenen Leitentscheidungen sprechen dafür, dass sie stehen bleiben dürfen. Aber sicher ist das noch nicht – auch wenn so mancher schon davon ausgeht. Wer durch Keyenberg oder Kuckum geht, wird Zeuge, wie Dörfer zerfallen. Die leeren Häuser werden nicht mehr gepflegt. Nachts kommen Plünderer, um Kupferrohre und Kabel aus den leerstehenden Häusern zu holen. Jede Woche meldet die Polizei neue Diebstähle. Security-Unternehmen patrouillieren durch die Orte.
Beate Zurmahr
Einige Häuser sind wieder bewohnt: Menschen, die bei der Flut im vergangenen Sommer ihre Häuser und Wohnungen verloren haben, sind dort untergebracht. Auch im früheren Haus von Beate Zurmahr leben Menschen. Für den Fall, dass die Dörfer vielleicht stehen bleiben können, wünscht sich Beate Zurmahr dennoch, dass ihr früheres Haus eines Tages abgerissen wird. „Das war schließlich die Voraussetzung, dass wir verkauft haben“, sagt sie. So oder so werden viele Häuser in den alten Dörfern nicht mehr zu retten sein. Zu lange sind sie unbewohnt. Sie werden im Winter nicht geheizt. Reparaturen werden nicht gemacht. Der Zerfall ist sichtbar: Einfahrten und Gärten sind verwildert, die Natur holt sich erste Grundstücke zurück.
Über das Thema Umsiedlung und die Proteste möchte Agnes Maibaum gar nicht mehr reden. Sie wohnt nun in Neu-Keyenberg und gehört dem Ortsausschuss an. „Als wir umgezogen sind, hatte ich erst das Gefühl von Ferienhaus. Das hat sich nach einigen Wochen geändert. Ich war froh, dass es vorbei war“, sagt sie.
Neu-Keyenberg wächst. Noch ist das Dorf eine große Baustelle: Die Häuser sind im unterschiedlichen Baustadium vom Rohbau bis hin zum bewohnten Haus. Einige Grundstücke sind noch frei, die Straßen sind provisorisch, die Gehwege sind Schotterpfade. Aber man kann schon erkennen, wie es einmal wird. Ein schmaler Weg zieht sich durch den neuen Ort, in dem die fünf Einzeldörfer zusammenwachsen. Der Weg erinnert an die schmalen Wege, die die alten Dörfer miteinander verbunden haben. Heute führt er direkt in den Nachbarort Borschemich.
Auch Borschemich gehört zu den umgesiedelten Dörfern. Den alten Ort gibt es nicht mehr. Die Kirche St. Martinus wurde Mitte Februar 2016 abgerissen. Für die benachbarten Orte ist Borschemich der Blick in die Zukunft. Wie der Ort selbst führen auch die Straßennamen den Zusatz „neu“ nicht mehr. Das Zentrum bildet die neue Kapelle mit Pfarrzentrum. Die Turmuhr und die Glocken stammen aus der alten Kirche St. Martinus, im Garten nahe der Kapelle findet sich die Kreuzigungsgruppe aus dem Park von Alt-Borschemich. Der Ort ist auf dem Reißbrett entstanden, wirkt aber wie zusammengewachsen. Nur die vielen neuen Häuser zeigen, dass dieses Dorf noch nicht so lange existiert. Das unterscheidet es von anderen Neubaugebieten.
Bei den Planungen wird vieles berücksichtigt: Wie können die Schützen beim Schützenfest marschieren? Wo hat die Festwiese Platz? Wie bekommt der Ort den Charme eines gewachsenen Dorfes? Wie kann man das Grün der großen Grundstücke aus dem alten Ort kompensieren? Das Vereinsleben muss neu aufgebaut werden. „Es wird immer so dargestellt, als ob alle in den alten Dörfern bleiben wollen“, sagt Zurmahr. „Aber das stimmt so nicht. Wir respektieren, wer dort bleiben möchte. Aber wir möchten auch, dass unsere Entscheidung respektiert wird, hier neu anzufangen.“ Von den Demonstrationen zum Erhalt der Dörfer hält sie nichts mehr.
Auch Agnes Maibaum will von den Demonstrationen nichts mehr wissen. Sie wünscht sich Ruhe. „Ich möchte einen Abschluss. Niemand kann nachempfinden, wie es ist, der es nicht selbst erlebt hat“, sagt sie. „Man muss seinen inneren Frieden finden.“