Neuer Blick für Belange der Betroffenen

Verantwortliche des Bistums Aachen ziehen erste Konsequenzen aus Gutachten zur sexualisierten Gewalt

(c) Andreas Steindl/Bistum Aachen
Datum:
17. Nov. 2020
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 47/2020 | Thomas Hohenschue

Sexualisierte Gewalt findet alltäglich statt. In Familien, Einrichtungen, Vereinen. Und auch in der Kirche. Das Bistum Aachen hat den Mut aufgebracht, hier genau hinzuschauen. Und zwar auf das Handeln von Klerikern. Und auf die Verantwortung von Bischöfen und Generalvikaren. Tage später beziehen drei, die heute Leitungsaufgaben wahrnehmen, Stellung.

Im Bistum Aachen gibt es keinen Platz für sexualisierte Gewalt: Das ist das erklärte Ziel von Generalvikar Andreas Frick. Manches sei bereits auf dem Weg, was das Gutachten empfiehlt. Weiteres werde in den nächsten Wochen beraten und beschlossen. (c) Andreas Steindl/Bistum Aachen
Im Bistum Aachen gibt es keinen Platz für sexualisierte Gewalt: Das ist das erklärte Ziel von Generalvikar Andreas Frick. Manches sei bereits auf dem Weg, was das Gutachten empfiehlt. Weiteres werde in den nächsten Wochen beraten und beschlossen.

Die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch, verübt im Raum der Kirche, von Klerikern, ist eine endlose Geschichte. Betroffene fühlen sich oft nicht wahrgenommen, nicht ernstgenommen, vertröstet, belogen, billig abgefertigt, zuletzt sogar noch 
instrumentalisiert. Ihr Blickwinkel auf die eigene Lebensgeschichte, auf das Erleben und die Folgen von Gewalt, die Spuren der Traumata in ihrer Seele, ist oft nur Gegenstand von Sonntagsreden.

Das alles soll nachhaltig anders werden, versprechen für das Bistum Aachen Bischof Helmut Dieser, Generalvikar Andreas Frick und Personalchefin Margherita Onorato-Simonis. Sie haben das unabhängige Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl intensiv studiert. Es ist konsequent mit Blick auf die Belange der Opfer geschrieben. Diesen Perspektivwechsel empfindet der Bischof als die wichtigste Leistung der Anwälte und als ihren Auftrag an ihn und alle in der Kirche.

Es geht um die Wahrheit, verdeutlichen Helmut Dieser und Andreas Frick, denn ohne eine solche Wahrhaftigkeit ist keine versöhnte Zukunft möglich. Mehrfach scheint beim Pressegespräch auf: Die heutigen Verantwortlichen möchten reinen Tisch machen. Sie fordern Betroffene, Angehörige, aber auch Mitarbeiter und Außenstehende auf, Erfahrungen oder Beobachtungen sexualisierter Gewalt zu melden. Als Ansprechpartner stehen unabhängige Anlaufstellen oder speziell geschulte Mitarbeiter des Bistums bereit. So soll Licht in das Dunkelfeld noch nicht entdeckter Missbrauchsfälle gebracht werden.

Weihe und geistliches Amt schützen nicht vor Haftung

Personalchefin Margherita Onorato-Simonis macht deutlich: Der Fokus ihrer Personalarbeit liegt in Fällen sexualisierter Gewalt auf den Betroffenen. (c) Andreas Steindl/Bistum Aachen
Personalchefin Margherita Onorato-Simonis macht deutlich: Der Fokus ihrer Personalarbeit liegt in Fällen sexualisierter Gewalt auf den Betroffenen.

Ausdrücklich schließen Bischof und Generalvikar nicht aus, dass auch in ihrer Zeit Unrecht geschehen ist. Die Studie habe dafür zwar keine konkreten Anhaltspunkte festgestellt, aber angesichts der tief verankerten systemischen Ursachen sei es nicht undenkbar, dass sich auch nach 2015 sexualisierte Übergriffe durch Kleriker ereigneten. Helmut Dieser und Andreas Frick möchten sich dem stellen und ihrer Verantwortung durch konsequentes Nachverfolgen und Handeln gerecht werden. Die klare Ansage des Bischofs lässt keinen Spielraum für Interpretationen: „Die Weihe und das geistliche Amt schützen nicht vor Haftung und Ahndung.“

Helmut Dieser wiederholt mit Blick auf die noch lebenden früheren Verantwortungsträger die Aussage der Gutachter, dass niemand an den Pranger gestellt werden solle. Auch die Lebensleistung der Betreffenden möchte er nicht abgewertet wissen. Aber, so macht er mit dem genannten neuen Blick auf sexualisierte Gewalt unmissverständlich deutlich: Aus Sicht vieler Opfer sei es sehr wichtig, dass jemand für die Taten, die ihnen widerfuhren, Verantwortung übernähme. Bisher sei ihnen die Kirche als ein System organisierter Verantwortungslosigkeit gegenübergetreten. Insofern wünscht sich Helmut Dieser von seinem Vorgänger eine kritische Selbstreflexion, die in eine öffentliche Stellungnahme mündet, die Betroffenen Frieden geben kann.

Er selber möchte sich der institutionellen Verantwortung ohne Selbstschonung aussetzen, indem er Gespräche mit Betroffenen und Angehörigen führt, soweit sie das wünschen, kündigte der Bischof an. „Was wir in der Vergangenheit getan haben, war zu wenig, es war nicht angemessen“, unterstreicht Helmut Dieser die Quintessenz des Gutachtens. 

Nicht länger eine Teflon-Kirche sein, an der Hinweise abperlen

Er strebt einen Kulturwandel an, erklärt, die vielfältigen Formen des Klerikalismus überwinden zu wollen. Nicht länger solle das Bistum Aachen eine „Teflon-Kirche“ sein, an der Hinweise auf sexualisierte Gewalt abperlen. Die Schwächen und Vergehen von Klerikern seien genauso offen anzusprechen wie die anderer Menschen. „Wir dürfen uns nicht dem Priester enger verbunden fühlen als dem Opfer“, sagt der Bischof. 
Auch sonst möchten er, Generalvikar Andreas Frick und Personalchefin Margherita Onorato-Simonis viele Empfehlungen der Gutachter beherzt aufgreifen. Teilweise setzen sie diese bereits um, etwa bei der Standardisierung von Verwaltungsvorgängen und der Aktenführung. „Prozessbeschreibungen geben Handlungssicherheit“, sagt die 
Leiterin der Hauptabteilung Pastoralpersonal. Und unvollständige, lückenhafte Personalakten, aus denen Teile verschwinden, werde es nicht mehr geben.

Professionelle Personalarbeit zeichne sich dadurch aus, dass sie frei und unabhängig von persönlichen Verbindungen und Verstrickungen agiere. Und das bedeute, dass künftig jedem Hinweis auf mögliche sexualisierte Gewalt nachgegangen werde ohne Rücksicht auf kirchliche Hierarchien. „Der Fokus liegt auf dem Schutz der Betroffenen“, betont die Personalchefin. Dass sie kürzlich in einem Fall eines beschuldigten Klerikers Kritik erntete, weil eine Einschätzung aus den Personal-akten zitiert wurde, sah sie ihrerseits kritisch. Hier erwartete sie mehr Unterstützung aus den eigenen Reihen und auch seitens der Medien, die ansonsten zu Recht Transparenz einforderten.

Überhaupt wird der ganze weitere Prozess der Aufarbeitung noch konfliktbeladen sein. Der Generalvikar skizzierte als Beispiel die Finanzierung eines Fonds, der ab Januar 2021 schnelle, unbürokratische Zahlungen in Anerkennung des Leids ermögliche. Kein einziger Euro soll hier aus dem Kirchensteueraufkommen abgezweigt werden, betont Andreas Frick. Er setzt stattdessen auf freiwillige Zahlungen von Verantwortlichen, von Priestern und anderen Menschen, die sich dem Anliegen verpflichtet fühlen. Mit Geld Buße tun ist die Idee dahinter.

Der Bischof möchte sich in den nächsten Wochen mit den diözesanen Gremien beraten, wie es weitergeht. Ein paar Stichworte sind bereits in der Pipeline: Eine interdisziplinäre unabhängige Kommission soll die weitere Aufarbeitung begleiten. Ein gut ausgestatteter unabhängiger Beirat von Betroffenen soll die Perspektive der Opfer sexualisierter Gewalt im Bistum Aachen stärken. Generalvikar Andreas Frick betont das Selbstverständnis, mit dem all das geschehen soll: „In diesem Bistum gibt es keinen Platz für sexualisierte Gewalt! Es gibt keine Toleranz dafür!“

Mehr Informationen zum Thema und den Anlaufstellen im Netz unter www.bistum-aachen.de. In der nächsten Ausgabe der Kirchen-Zeitung werden wir weitere 
Reaktionen auf das Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl 
veröffentlichen. Das Gutachten ist einzusehen unter www.bistum-aachen.de/aufarbeitung.