Vor zwei Jahren führte Liubov Moskovchenko mit ihren beiden Kindern Yeva und Tikhon ein ganz normales, zufriedenes Leben in Charkiw. Dann kam die Nacht, die alles veränderte. „Wir wachten morgens um 4 Uhr auf – und alles war laut und unruhig“, blickt die Ukrainerin zurück. „Der Himmel war rötlich verfärbt, der russische Angriffskrieg hatte begonnen.“
Die eigentlichen Kämpfe waren zwar noch weit entfernt, aber nur wenige Stunden später fuhren russische Panzer durch den Wohnbezirk. Und noch ein paar Tage später kamen die ersten Flieger. Im Internet und auf dem Handy verbreiteten sich Meldungen über einen Bombenabwurf auf ein Mehrfamilienhaus ganz in der Nähe. Die Angst der Mutter, dass die nächste Bombe die eigene Wohnung treffen könnte, wuchs beständig und wurde so stark, dass sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Schnell stand für sie fest: „Wir müssen weg. Sofort!“
Liubov Moskovchenko packte die wichtigsten Sachen zusammen und machte sich am 2. März mit den Kindern auf den Weg zu einer Freundin. Gemeinsam mit deren Familie setzten sie sich am 12. März in einen überfüllten Zug und fuhren nach Prag. Die Reise dauerte fünf Tage, zwischenzeitlich gab es eine Bombendrohung und der Zug hielt zwei Stunden unbeleuchtet auf offener Strecke. Ein Schreckmoment! Doch zum Glück passierte nichts.
Die tschechische Hauptstadt blieb eine dreimonatige Zwischenstation, bevor es weiter in den Westen Deutschlands ging. Zur neuen „Zufallsheimat“ wurde schließlich Aachen. Und da standen die Drei nun in einem fremden Land, ohne Sprachkenntnisse und ohne eine Idee davon, wie es weitergehen könnte. „Am Anfang war es schwer“, blickt die alleinerziehende Mutter zurück. „Aber wir hatten in vielerlei Hinsicht sehr viel Glück!“ So räumte eine Studentin ihre Wohnung in der Innenstadt und überließ sie der Familie. Bei einem Spaziergang in der neuen Umgebung kam das Trio an der Domsingschule vorbei. „Ich weiß noch, dass wir gerätselt haben, was das ist. Eine Privatschule für Musik. Das klang toll, aber ganz weit weg!“, schmunzelt Moskovchenko. Sie schrieb an das Schulamt mit der Bitte um Hilfe bei der Einschulung ihrer beiden Kinder. Am Ende der Sommerferien erhielt sie plötzlich einen Brief von Irma Wüller, der Leiterin der Domsingschule. Diese bot an, Yeva und Tikhon aufzunehmen. „Das kam unerwartet und hat mich sehr überrascht. Wir haben uns aber wirklich gefreut, denn Yeva hat in der Ukraine in einer Folkloregruppe gesungen und getanzt.“
Gerade einmal anderthalb Jahre ist das jetzt her. Die elfjährige Schülerin besucht inzwischen das Pius-Gymnasium und singt im Mädchenchor am Aachener Dom mit. Für Bruder Tikhon steht fest, dass er – sobald es altersmäßig möglich ist – dem Domchor beitreten möchte. Und die Mutter ist glücklich. „Das hat wirklich alles geändert! Yevas Leben ist inzwischen der Mädchenchor. Sie hat Freundinnen gefunden, fühlt sich wohl, freut sich auf die Proben und findet es überhaupt nicht schlimm, wenn sie an manchen Sonntagen früh aufstehen muss, um im Gottesdienst zu singen. Heute habe ich das Gefühl, dass die Möglichkeit, an dieser Schule zu lernen, ein Segen Gottes für die Kinder und mich war.“
Im Dezember wurde das Mädchen offiziell in den Chor aufgenommen. Da lag die Teilnahme an ihrem ersten Konzert knapp drei Monate zurück. Im September hatten die Sängerinnen unter dem Motto „EinKlang“ ein Konzert zusammen mit einem Mädchenchor aus Colmar aufgeführt. Für Mama Liubov war das ein Schlüsselerlebnis: „Meine Tochter in dieser Gemeinschaft zu sehen, die Mädchen singen zu hören und zu sehen, dass wir nach nur anderthalb Jahren an diesem besonderen Ort, dem Aachener Dom, angekommen waren – das hat mich zu Tränen gerührt!“
Die Musik war in diesem Fall ein ganz wesentlicher Bestandteil der Integration. Chorleiter Marco Fühner kann das bestätigen. „Yeva macht das ganz toll, sie hat sich in kürzester Zeit wunderbar eingefügt, lernt sehr schnell und kurioserweise singt sie die Texte, anders als noch beim Sprechen, akzentfrei mit!“
Zahlreiche Bilder und Videos vom „Chorleben“ hat Liubov Moskovchenko inzwischen auf ihrem Handy gespeichert. Die in der Ukraine lebende Oma väterlicherseits freut sich immer, wenn sie Hörproben zugeschickt bekommt. „Sie singt in einem Seniorenensemble mit und hat Ahnung von Musik. Sie ist wahnsinnig stolz darauf, dass ihre Enkelin sich so toll entwickelt hat und leistungsmäßig mithalten kann!“ Liubov Moskovchenko hat inzwischen wieder angefangen, Zukunftspläne zu schmieden. Und die Zukunft liegt für sie und ihre Kinder ganz klar in Aachen.