Mitten unter ihnen sein

Mitten unter ihnen sein Über die Chancen, die sich für die Zukunft der Kirche vor Ort aus der Quartiers- und Stadtteilarbeit ergeben

Die Kirche gehört – nicht nur optisch – zu Dörfern und Stadtvierteln. Droht diese Nähe zu den Menschen vor Ort verloren zu gehen? (c) www.pixabay.com
Die Kirche gehört – nicht nur optisch – zu Dörfern und Stadtvierteln. Droht diese Nähe zu den Menschen vor Ort verloren zu gehen?
Datum:
12. Nov. 2019
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 46/2019

Wilfried Hammers und Bruno Ortmanns sind mit ihrer Arbeit nah an den Menschen. Wilfried Hammers als Gemeindereferent in St. Josef Herzogenrath-Straß und Bruno Ortmanns als Diakon in „Christus unser Friede“ Herzogenrath-Kohlscheid. Im Gespräch schildern sie, wie sie Kirche vor Ort erleben und was für sie wichtig ist, damit Kirche hier glaubwürdig bleibt.

Die Quartiers- und Stadtteilarbeit hat in den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Auch kirchliche Räume werden immer größer. Welche Möglichkeiten liegen dazu in der Quartiersarbeit? Inwieweit kann Kirche sich da einbringen?

Wilfried Hammers  Mein kirchliches Verständnis ist, dass wir – ich sage das jetzt mal etwas pathetisch – Diakon in den Stadtteilen und in den Quartieren sind. Das heißt da, wo die Menschen leben und wohnen. Meine Sorge ist, dass die Kirche sich diesen Räumen entzieht. Ich finde es insbesondere deswegen sehr schmerzhaft, weil ja die kleinen lokalen Räume, die Dörfer, die Identifizierung der Kirche jahrzehntelang ausgemacht haben. Jeder kleine Ort hatte eine Kirche oder eine Kapelle. Drumherum tat sich ganz viel und die kleinen Orte mit den kleinen Leuten in diesen Orten haben die Kirche groß gemacht. Und jetzt wendet sich die Kirche, mit einer manchmal großen Borniertheit, von diesen Leuten ab und kritisiert: „Die Leute sind doch alle mobil und wenn nicht, dann regeln wir das für sie. Die können doch wohl mal fünf Kilometer fahren, in die nächste Kirche.“   

Bruno Ortmanns  Das ist ein absolutes Muss, dass sich Kirche da einbringt. Die Arroganz, mit der Kirche darüber hinweggeht, ist manchmal unerträglich. Die Amtskirche, nicht die einzelnen Pfarreien oder Pfarrer und pastoralen Mitarbeiter. Die sehen das schon ein bisschen anders, weil sie vor Ort arbeiten. Aber im Prinzip muss sich Kirche unbedingt an der Quartiersarbeit beteiligen, weil sie sonst unglaubwürdig wird.  

Wilfried Hammers  Wir haben über Jahrzehnte hinweg beklagt: Alles wird verweltlicht, die Leute gewinnen Abstand zu ihrer eigenen Konfession und ihren religiösen Wurzeln. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass wir bei einer Art Selbst-Säkularisierung der Kirche sind, die sich von der Welt abwendet. Das ist jetzt keine Generalkritik an größeren pastoralen Räumen, aber oft ist es doch so, dass da geguckt wird: Wie bekommen wir die Sakramente und die Gottesdienste geregelt? Aber wie das Leben der Menschen, von denen heutzutage auch viele Unterstützung brauchen, im Blick bleibt, danach fragt doch kaum einer. 

Bruno Ortmanns  Spende der Sakramente und Gottesdienste verkommen teilweise tatsächlich zur „Dienstleistung“. Das Diakonische geht verloren.

 

Gerade im Bereich diakonische Pastoral – eigentlich ja eine Kernkompetenz von Kirche – liegt für Sie also auch eine Chance, sich in diesen kleineren Sozialräumen einzubringen?   

Bruno Ortmanns  Ja sicher. Das tun wir ja auch. Ein Beispiel ist das „Ess-Cufé“ in Kohlscheid, wo wir zweimal im Monat dienstags ein Essen für einsame, alte und ärmere Menschen anbieten. Das wird sehr gut angenommen. Wir haben jedes Mal 30 bis 40 Besucher. Am Anfang war der Anteil der ärmeren Menschen eher geringer, aber das steigert sich jetzt so langsam. 

Wilfried Hammers  Da, wo kirchliches Leben war, da war Vereinsleben, da gab es Verbände und Verbünde. Die haben sich oft von uns als kirchliche Struktur vor Ort die Entwicklungsmöglichkeiten angeguckt und haben sie auf ihre Weise abgebildet. Das ist für mich Kernkompetenz, und die sind wir dabei – so meine Sorge – aufzugeben. Ich glaube einfach, dass wir da mächtig gegensteuern müssen.

 

Was kann Kirche für ihre pastorale und diakonische Arbeit aus der Quartiersarbeit lernen? Inwieweit kann das auch Experimentierfeld für die Zukunft sein?

Bruno Ortmanns  Die Nähe zum Menschen, die kann gelernt werden. Sich nicht von ihnen zu entfernen. 

Wilfried Hammers  Wenn man sich ein jesuanisches Wort herausgreift: „Was willst du, das ich dir tue?“ Wenn man nah an den Menschen dran ist und an ihren Fragestellungen, Sorgen und Nöten, dann ergibt sich auch, dass man viel besser ausloten kann, was Menschen selbst machen können, um zu einem guten und gelingenden Leben zu kommen. Das sollte der erste Punkt sein: Empowerment – wo können sie ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen und wo brauchen sie möglicherweise noch Unterstützung oder einen Rat, damit sie selbst wieder in die Rolle eines Akteurs kommen. Ich habe kürzlich einen Beitrag gesehen über einen Supermarktleiter, der ältere Leute aus seinem Ort mit dem Taxi zum Einkaufen abholen lässt, so dass sie das wieder selbst erledigen und unter Leute kommen können. 

Bruno Ortmanns  Ich denke auch, das das nicht immer etwas mit Glauben oder Theologie zu tun haben muss. Das müssen ganz niedrigschwellige Angebote sein. Wie das Beispiel, das Wilfried genannt hat. Das können wir als Kirche auch.

Wilfried Hammers  Ich glaube auch, dass wir diese Kompetenz haben. Unser Religionsstifter hatte sie. Der hat nicht erst gefragt, wie gläubig oder nicht gläubig jemand ist und ob er jede Woche in die Synagoge gegangen ist. 

Bruno Ortmanns  Diakonie ist immer zweckfrei. Ein Beispiel dafür: Wir haben eine Caritaskasse, über die wir Leute mit Einkaufsgutscheinen und kleineren Geldbeträgen unterstützen. Da fragen wir nie nach, ob jemand katholisch ist oder evangelisch. Es klingeln auch viele Muslime bei uns, da helfen wir auch. Das ist wesentlich und wichtig. 

Wilfried Hammers  Es geht auch in Zukunft um diese kleinen Quartiere, die in Städten ja gar nicht immer so klein sind, wo geografisch ein in sich geschlossener Kern von Menschen, die da leben, entsteht. Wenn wir uns da zurückziehen, bekommen wir auch den Lebenspuls dieser Menschen nicht mehr mit. Wir müssen ja so schon Menschen deutlich machen: Ihr könnt zu uns kommen, mit allem, was euch bedrängt – auch was euch freut. Ich sage das bei jedem Taufgespräch, wir sind keine Sakramentenverwaltung. Wenn ich dabei zum Beispiel mitbekomme, dass da jemand arbeitsuchend ist, dann frage ich, ob ich die Adresse notieren darf. Wir sind keine Vermittlungsagentur, aber wir bekommen, wenn wir am Ort selbst abgebildet und nah am Puls der Zeit sind, Dinge mit. Und dann bleibt vielleicht als Wichtigstes aus dem Taufgespräch, dass ich jemanden kenne, der gerade jemanden sucht. Dann ist die Taufe der Anlass, aber der Mehrwert entwickelt sich daraus noch. Da wird dann zum Sakrament, zum wirksamen Heilzeichen, dass jemand Arbeit findet. 

 

Die Zukunft sind wahrscheinlich immer größere kirchliche Strukturen. Die sich aber auffangen lassen, indem wir die kleine Gemeinde „rund um den Kirchturm“ nicht aus dem Blick verlieren und stärken.  

Wilfried Hammers  Die aber auch – so meine Überzeugung – mit pastoralem Personal gestärkt werden muss. Zu sagen, wir ziehen das hauptamtliche Potenzial an einem Ort zusammen und vor Ort bilden wir Leute aus, die die Quartiersarbeit erlernen, das halte ich für einen absoluten Fehlgriff. Denn denjenigen, die in einer sehr energiegeladenen Erwerbsarbeitsphase oder in einer Familienphase sind, jetzt zuzumuten, dass sie quasi einen Job machen sollten, den früher ein hauptberuflich Bezahlter gemacht hat, ist eine alberne These. Ohne zivilgesellschaftlich engagierte Menschen wären wir völlig weg, aber man darf sie nicht alleine lassen. Sie bringen viel ein, haben viel Energie, aber sie brauchen auch Unterstützung. 

 

Liegt in Quartiersarbeit auch eine Möglichkeit für Kirche, sich noch einmal neu und anders zu vernetzen? 

Wilfried Hammers  Wir als Kirche müssen insgesamt viel demütiger werden. Diakonisch heißt einen Dienst tun, das ist wichtig. Wir laufen als Kirche immer noch mit dem Nimbus herum, wir wären das Dach für alles. Auch da müssen wir mächtig zurücktreten, wir sind ein, sicherlich immer noch nicht unwichtiger, Akteur im Gemeinwesen, aber andere sind es auch. Wir haben in vielen Gegenden noch die wichtige Ressource Raum. Da, wo Leute sich zusammenfinden und wo sie etwas Selbstorganisiertes machen und dabei auf ihr eigenes Wohnzimmer angewiesen sind, kann etwas Größeres oft nicht gelingen. Wenn jeder in einem Quartier seine Ressourcen einbringt, wird das ein großes Ganzes. Das Pfarrheim bei uns in der Pfarrei ist klassisch ein Bürgerhaus. Das nutzen viele weltliche Vereine, und es kommt immer wieder etwas zurück. Das ist Geben und Nehmen.

Bruno Ortmanns  Ich denke auch, als Kirche müssen wir gegenüber allen anderen Gruppierungen oder Akteuren im Quartier offen sein. Da gibt es nichts, wovor man zurückschrecken müsste. Da sehe ich auch oft innerhalb von Kirche, dass einzelne Angst oder Vorurteile haben, auf manche Leute zuzugehen. Aber das ist Quatsch, wir müssen auf alle zugehen und mit ihnen zusammenarbeiten. 

 

Das Gespräch führte Andrea Thomas.