Mit offenem Ohr und Herz

Ursula und Fritz-Georg Kersting gehörten zu den Pionieren der Entwicklungsarbeit in Bolivien

Ehepaar Kersting ist seit fast 60 Jahren gemeinsam auf dem Lebensweg und im Einsatz für die „Eine Welt“. (c) Stephan Johnen
Ehepaar Kersting ist seit fast 60 Jahren gemeinsam auf dem Lebensweg und im Einsatz für die „Eine Welt“.
Datum:
31. Juli 2018
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 31/2018 | Stephan Johnen
Als sich Fritz-Georg (84) und Ursula Kersting (82) 1962 auf den Weg nach Sucre in Bolivien machten, ahnten sie nicht, dass dies nur der erste Schritt eines Weges war, der sie ein Leben lang mit dieser Region der Erde verbinden sollte.
Der Sucrenser Erzbischof und spätere Kardinal José Clemente Maurer  begrüßt 1966 die ersten deutschen Entwicklungshelfer. (c) privat
Der Sucrenser Erzbischof und spätere Kardinal José Clemente Maurer begrüßt 1966 die ersten deutschen Entwicklungshelfer.

Die beiden jungen Lehrer aus dem Kreis Monschau wollten damals in den Auslandsschuldienst und folgten darum einem Hilferuf in einem Pfadfindermagazin. Doch wir beginnen diese Geschichte nicht mit dem Start der Dorfentwicklungsarbeit im bolivianischen Hochland, der Arbeit der Kerstings für den Deutschen Entwicklungsdienst oder der Gründung des Vereins Bolivien-Brücke, der als Mitglied im Sozialen Dienst für Frieden und Versöhnung (SDFV) des Bistums Aachen unter anderem Freiwillige in Projekte entsendet. Unsere Geschichte beginnt Silvester 1953 in der Jugendherberge Nideggen, wo sich das heutige Ehepaar kennengelernt hat. Sie hatten direkt einen Anknüpfungspunkt, der sich wie ein roter Faden durch ihr Leben zieht: die Pfadfinderarbeit.

Er war mit den Pfadfindern aus Aachen-Brand unterwegs, sie mit einer Gruppe Pfadfinderinnen aus Köln. Sie waren sich sympathisch, korrespondierten, es gab einen Austausch der Stämme. Was soll noch mehr gesagt werden: Im nächsten Jahr wird Diamantene Hochzeit gefeiert. Beruflich führte die Stadtmenschen der Weg aufs Land in die Landschule/Volksschule nach Rurberg. „Viele Kollegen haben einen deswegen belächelt, aber wir wollten ganz bewusst auf eine Landschule“, blickt Fritz-Georg Kersting zurück. Der Beruf ist eine Berufung. Für Fritz-Georg und Ursula Kersting, die heute in Steckenborn leben, hat ihre Arbeit nie mit dem Verhallen des Schulgongs geendet. Das gilt für die Zeit in Rurberg, wo sie in der Zeit der Talsperren-Aufstockung ihren beruflichen Grundstein legten, ebenso wie für die deutsche Schule in Sucre. Mit Unterricht, dem reinen Vermitteln von Wissen, ist es aus ihrer Sicht nicht getan. Stets gehörte auch eine soziale Komponente dazu.

 

Kultur verstehen lernen

Die Tür der Lehrer stand immer offen, sie hatten ein offenes Ohr für die Anliegen der Kinder und Eltern. Doch sie beließen es nicht beim Zuhören. In Sucre, Bolivien, bauten sie beispielsweise Pfadfindergruppen auf und gehören zu den Mitgründern eines Jugend- und Bildungszentrums (CEJ). Sie leisteten Pionierarbeit in der Gemeinwesen- und Dorfentwicklungsarbeit nach dem Unterricht. „Das war ja unsere Freizeit“, sagt Fritz-Georg Kersting. Viele Menschen erklärten das Lehrer-Ehepaar „für bekloppt“, weil es sich mit einem Kleinkind auf den Weg in ein Land machte, das noch mit den Auswirkungen einer Revolution zu kämpfen hatte. Die deutsche Schule in Sucre ist von evangelischen Pfadfindern aufgebaut worden, die nun auch katholische Lehrer brauchten und einen Hilferuf abgesendet hatten. Die Kerstings hatten sich gemeldet – und innerhalb kürzester Zeit war der Umzug nach Sucre beschlossene Sache. Spanisch konnten beide zu diesem Zeitpunkt noch nicht. „Wir waren damals schlecht vorbereitet“, blickt Ursula Kersting zurück. Doch sie hatten offene Augen und offene Herzen, interessierten sich für das Leben und die Lebensumstände der Menschen, wollten die indigene Kultur kennenlernen und verstehen. Die Schüler stammten aus der gehobenen Mittelschicht, doch schnell wurde den Kerstings klar, dass vor allem indigene Kinder trotz der bolivianischen Revolution die Verlierer des Bildungssystems waren. Sie unterstützten den Aufbau von Schulen und Bildungszentren – und unterrichteten selbst. Nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene. Auf dem Lehrplan des Landzentrums standen auch Anbaumethoden für die indigenen Landwirte, die im Zuge der Revolution nun selbst ihr eigenes Land bewirtschaften durften. Wichtig war beiden, einen Austausch zwischen den Bevölkerungsgruppen zu fördern, zwischen Stadt und Land, arm und reich. „Bei den Landschulaufenthalten haben wir mit den Stadtkindern der deutschen Schule auch einmal pro Woche auf den Feldern gearbeitet und wurden des-wegen als ‚Kommunisten‘ bezeichnet“, sagt Fritz-Georg Kersting und muss lachen. „Geschadet hat es den Kindern nicht.“

Fünf Jahre lang, von 1962 bis 1967, waren beide im Auslandsschuldienst, drei weitere Jahre standen sie im Dienst des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED). Wurden die Kerstings noch mehr oder weniger ins kalte Wasser geworfen, gab es nun für Mitarbeiter der Entwicklungszusam- menarbeit spezielle Vorbereitungskurse. Ihre wichtigste Botschaft lautete: Hört zu, schaut zu – und lernt auch selbst, anstatt der Welt zu erklären, wie aus deutscher Sicht alles zu funktionieren hat. Für den DED sollte es noch einmal ab 1970 nach Bolivien zurückgehen, doch eine Diagnose innerhalb der Tropentauglichkeitsuntersuchung von Fritz-Georg Kersting, die sich später als Fehldiagnose herausstellte, vereitelte die Pläne. Also kehrte das Ehepaar in den deutschen Schuldienst zurück und unterrichtete bis zur Pensionierung 1996 immer gemeinsam an der gleichen Schule. Ihre Erfahrungen aus der Zeit in Bolivien brachten die Kerstings in den Unterricht und in die Lehrerausbildung ein. Beide engagierten sich beispielsweise 30 Jahre lang im Lehrerarbeitskreis „Eine Welt“ bei Misereor und erstellten Unterrichtsmaterial für Grund- und weiterführende Schulen, aber auch für Volkshochschulen und die politische Erwachsenenbildung. Eine ganze Bibliothek ist so zusammengekommen. Ursula Kersting: „Unsere Arbeit hat andere beeinflusst, ist Grundlage für ein anderes Verständnis für die Situation der indigenen Bevölkerung geworden.“

Diese Arbeit setzen sie auch im 2006 gegründeten Verein Bolivien-Brücke fort, der Freiwillige für die Arbeit in Projekten vorbereitet. Gleichzeitig geht es auch um Bildungs- arbeit an Schulen. Ursula Kersting erstellt und verleiht nach wie vor Informations- und Arbeitsmaterial. Ihr größter Wunsch ist es, dass die Aufklärungs-, Bildungs- und Entwicklungsarbeit von den kommenden Generationen fortgeführt wird. Die einst gelegte Saat trägt offenbar Früchte: Viele Ex-Freiwillige der Bolivien-Brücke übernehmen Verantwortung und setzen sich für die politische Bildung junger Menschen ein.