Sebastian Elverfeldt kann sich noch wie heute erinnern: Heiligtumsfahrt in Maastricht 1955 zu Ehren des Stadtpatrons Sankt Servatius, natürlich mit „Ommegang“ und Präsentation der Reliquien im goldglänzenden Schrein und in Gestalt des kostbaren Kopfreliquiars.
Der 94-Jährige ist ein junger Mann, gerade einmal Anfang Zwanzig – und die Reise über die Grenze ein echtes Abenteuer. „Grenzausweise oder so hatten wir ja nicht“, erzählt er, der damals zu einer Gruppe junger Gläubiger und aktiver Messdiener gehört. Erich Stephany (1910–1990), rühriger Prälat und Kapitular am Aachener Dom, hat die Jugendlichen um sich versammelt, um ihnen sein großes Wissen als Kunsthistoriker, Glaubensinhalte und seine tiefe Verbundenheit mit dem Dom zu vermitteln, den er bis in den letzten Winkel kennt und liebt. „Das Mittelalter stand für Stephany über allem, er hat uns immer wieder mitgenommen, wenn er im Dom unterwegs war, er hatte sogar einen Schlüssel“, erzählt Elverfeldt.
In diesem Sinne soll die alle sieben Jahre stattfindende „Heiligdomsvaart Maastricht“ den Horizont der Jugendlichen erweitern, quasi als Ergänzung zur Aachener Heiligtumsfahrt. Doch Mitte der 50er-Jahre ist so ein Ausflug nicht selbstverständlich, brauchen Reisende besondere Ausweise oder Genehmigungen zum Grenzübertritt. „Ich kann gar nicht genau sagen, wie Stephany das hinbekommen hat, aber es war offenbar kein Problem“, lächelt der einstige Messdiener.
Spannend wird es bereits in Aachen vor den Toren der Schatzkammer. Stephany hat eine Reihe von Leuten organisiert, die einen Volkswagen besitzen. Die kleine Kolonne fährt vor, die Teilnehmer steigen ein, mit ihnen drei Herren der Dom-Schweizer, darunter der eindrucksvolle Oberschweizer, ein Zwei-Meter-Mann, alle in ihrer historischen Tracht. „Ich glaube, das war ein Herr Pennings“, lächelt Elverfeldt. „Alles war vornehm, schwarz mit gelbblauen und roten Elementen, Kapitel- und Stadtwappen.“ Kaum sitzt er mit einem anderen Messdiener auf dem Rücksitz des Wagens, gibt es für die beiden ein gesondertes „Gepäckstück“, dick eingewickelt: „Das Lotharkreuz und die Karlsbüste, sorgfältig abgedeckt mit Bettlaken“, erzählt er und kann es nicht fassen, dass am Zoll niemand kontrolliert wird. Das kleine Auto aus Deutschland darf unbehelligt Richtung Maastricht rollen.
Dort angekommen, ist der Trubel groß. Die Gäste werden offensichtlich erwartet. „Wir durften nur zuschauen, Lotharkreuz und Karlsbüste haben die drei Dom-Schweizer übernommen, die sich damit in die große Prozession einreihten, wobei die Gläubigen am Wegesrand nicht nur die Kostbarkeiten, sondern gleichzeitig den großgewachsenen Oberschweizer bestaunen. „Man hat ihn für einen Darsteller gehalten, der Karl den Großen spielt“, lächelt Elverfeldt. „Diese Prozession war unglaublich eindrucksvoll, da gingen sogar Abordnungen aus Männer- und Frauenorden mit.“ Die Rückreise? Keine Komplikationen. So genau weiß er es allerdings nicht mehr – besser hat Elverfeldt einen Ausflug zu einem Lokal bei Maastricht in Erinnerung, wo Stephany den tapferen Begleitern Limonade (oder war es ein Eis?) ausgibt. Jedenfalls kehren die Kostbarkeiten wieder heil in die Aachener Domschatzkammer zurück.
Elverfeldt beobachtet, damals wie heute, sammelt Historie, wobei Maastricht natürlich ein besonderes Ereignis ist. Doch es gibt viele kleinere Geschichten – etwa von der Dekoration der traditionellen Weihnachtskrippe im Dom. „Stoffe, Gewänder, Paramente, sogar Kronen aus dem Schatz des Gnadenbildes konnten verwendet werden“, schwärmt er. „Das war eine wunderbare Pracht.“ Im Depot der Schatzkammer entdeckt er eine andere Büste: Papst Leo III., identisch mit der Karlsbüste, das vergisst er nicht.
Elverfeldt kann von erstaunlichen Orten berichten – etwa vom Totenkeller unter der Kirche St. Foillan, kalt und düster, aber mystisch. „Da habe ich als Ministrant die Messe gedient, ganz früh morgens, das war nicht immer leicht.“ Viele Erinnerungen nimmt er mit ins Erwachsenenleben als Wollstoffmacher. Mühevoll ist es, eine Lehrstelle zu finden, die Großeltern, bei denen er in der Hartmannstraße aufwächst, helfen dabei. „Noch immer kann ich riechen, was Stoffe enthalten“, betont er. „Früher roch es bei den Stoffhändlern noch nach Schafwolle, jetzt liegt zu viel Chemie in der Luft.“
Seine Kirchen-Erfahrungen bleiben kostbar. Elverfeldt setzt sie später noch als Küster um – unter anderem in St. Fronleichnam und St. Paul. Und wenn er am 23. Juli 2026 mit Ehefrau Philomene die Eiserne Hochzeit feiert, an Sohn, Tochter und die beiden Enkel denkt, kann er selbst kaum glauben, was sich alles in diesem Leben ereignet hat. Seiner Stadt ist er verbunden, mischt gern beim Erzählen Hochdeutsch mit Öcher Platt und gehört seit 1954 zu einem der ältesten Karnevalsvereine in Aachen, der „Narrenzunft“ – die Kappe bewahrt er staubgeschützt in einer Glasvitrine auf.
Stets historisch interessiert und der Gegenwart verbunden, hat er zusammen mit dem damaligen Oberbürgermeister Jürgen Linden einen Gedanken entwickelt, der 1992 nach schwierigen Planungen zur vielbeachteten Realität wird: Der Besuch von rund 200 ehemals in Aachen ansässigen Juden in ihrer Heimatstadt. „Ich pflege weiterhin die Unterlagen“, sagt Elverfeldt still. Er hat sich gleichfalls um den Erhalt des Jüdischen Friedhofs bemüht, bei Führungen an Generationen erinnert, von denen Namen und Grabsteine erzählen. „Das Gedächtnis der Stadt“ nennt Linden bei Verleihung des „Rheinlandtalers“ des Landschaftsverbandes Rheinland den geborenen Aachener. Elverfeldt: „Ich habe immer geforscht und im Aachener Geschichtsverein mitgearbeitet.“
Die Jugendjahre bei Prälat Stephany haben ihn geprägt. Als ihm seine Familie die Replik eines Gemäldes des Flamen Bernard van Orsay (1491–1542) als Leinendruck überreicht, ist das eine große Freude. Das Bild zeigt in feierlicher Umgebung Karl den Großen, wie er vom Papst Reliquien aus Jerusalem für die Aachener Kapelle entgegennimmt. Für Elverfeldt trägt das Bild schönste Erinnerungen.