Der Scholle verbunden zu sein, Wurzeln zu haben: Das ist für Menschen von großer
Bedeutung. „Heimat“ ist ein Anker, der Sicherheit und Selbstvergewisserung gibt. Was aber passiert, wenn dort, wo einst „Heimat“ sich festmachte, ein großes Loch klafft? Die KirchenZeitung hat Stimmen von Menschen gesammelt, die in unserer Region von Umsiedlung durch die Braunkohlegewinnung betroffen sind.
Wie heißt es im Volksmund? Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. So dürfte sich die Gemütslage der Menschen fassen lassen, die über
viele Jahre und Jahrzehnte wissen, dass ihnen ihre Heimat genommen werden wird. Es sind lange Abschiede.
„Ich bin 1964 geboren. Da war die Welt quasi noch in Ordnung“, erzählt Ralf Claßen. Als Jugendlicher ist er erstmals mit dem Thema Umsiedlung konfrontiert worden. Er erinnert sich, wie er mit seinen Eltern und vielen Dorfbewohnern in einer durch RWE organisierten Bustour den neuen Ort „Pier“ bei Langerwehe-Jüngersdorf besucht hat. „Wir haben dann auf dem Areal gestanden und zum Meroder Wald hingeguckt. Dann konnte man sich ausmalen, dass dort irgendwo einmal ‚Pier‘ entstehen würde. Hinterher gab es Kaffee und Kuchen, und dann fuhren wir wieder zurück. Das war so mein erster Kontakt mit der Umsiedlung.“
Schmerzlich sei für die Gemeinde vor allem der Abriss der Kirche gewesen. „Das sind so Dinge, die hat man immer noch im Kopf. Ich könnte heute noch aufmalen, wie bestimmte Dinge da ausgesehen haben.“ Ralf Claßen war einst Messdiener in Pommenich, einem Ortsteil von Pier, der 2014 abgebaggert wurde. Das Jahr, in dem er Bürgermeister der Gemeinde Aldenhoven wurde.
So war er praktisch nicht mehr selbst betroffen, sondern „Begleiter“ des Umzugsprozesses der Eltern. Sie, so erzählt Ralf Claßen, hätten es als Chance begriffen, sich im Alter noch einmal „barrierefrei“ ein Eigenheim zu errichten. Sie sind in die Grüntalstraße gezogen, eine Straße, die es auch im Heimatort schon gegeben hat, mit Nachbarn, die sie kannten. Das sei wichtig gewesen: „Wie früher auch, zwei Häuser weitergehen, ein Schwätzchen halten oder eine Tasse Mehl ausleihen.“ Außerdem wurden am neuen Ort Traditionen neu belebt, die mit „umgesiedelt“ worden sind. „Das hat bei den Schützen funktioniert, beim Karnevalsverein und auch beim Tambourcorps. Über die Vereine ist eine große Identität beziehungsweise ein großes Stück Heimat mitgenommen worden.“
So erlebt es auch Ina Dohmes, in Personalunion Ortsvorsteherin von Bürgewald und Morschenich (siehe auch S. 7 dieser Ausgabe). Es ist der jüngste Umsiedlungsort in der Region und die Trauerphase noch nicht abgeschlossen. Wehmütig erzählt sie vom letzten Zapfenstreich der Schützenbruderschaft im alten Ort Morschenich, dem Zug mit den Fahnen durch den Wald in das neue Dorf, in dem dann gefeiert wurde.
Seit sie Kind war, hat die Aufgabe der Heimat und Umsiedlung das Leben bestimmt: „Das waren auch ganz praktische Fragen: Welche Fliesen nimmst du? Welchen Gutachter?“ Besonders schlimm empfand sie aber die letzten Jahre: „Diese Phase zwischen Noch-nicht-zu-Hause-Sein im neuen Ort und Nicht-richtig-zu-Hause-Sein im alten.“ Zu ihrem Mann habe sie gesagt: „Ich möchte das nicht mehr: Ich will nicht mehr hier in dieses Dunkle fahren.“
Dann kamen Demonstranten und mit ihnen Einsatzkräfte der Polizei mit großen Fahrzeugen und Wasserwerfern. „Es kamen Leute, die am helllichten Tag mit dem Brecheisen über die Straße liefen. Das Erste, was immer weg war, waren die Satellitenschüsseln, dann die Dachrinnen… Überall wurden die Häuser aufgebrochen und die Fliesen von den Wänden geklaut, Lichtschalter, Kabel aus den Wänden gerissen. Das war nicht schön.“
Schlimm war für die Dorfgemeinschaft auch die Entwidmung von St. Lambertus – besonders, weil es in Morschenich-Neu noch keinen Ort für die Glaubensgemeinschaft gab. Und das, macht Dohmes aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl, gerade in der Zeit, in der die Menschen Trost und Anteilnahme gebraucht hätten. Es war ein Vakuum, das erst mit der Einsegnung der Kirche im vergangenen Jahr gefüllt werden konnte. Als die Entscheidung fiel, dass Morschenich als Ort „Bürgewald“ erhalten bleibt, blieben die Menschen mit gemischten Gefühlen zurück. Zwar haben sie einen Ort, an den sie zurückkehren können, aber „dafür sind wir nicht da weggegangen, dass jetzt Leute für wenig Geld sich später ein Luxusgrundstück dort am See gönnen können. Das ist eine Zwickmühle.“
Die empfindet auch Pfarrer Andreas Galbierz, der sich vor allem um
die Zukunft von St. Lambertus sorgt. Nach dem Brand 2023 soll die Kirche wieder als Kultur- und Begegnungsort aufgebaut werden. Das sieht der Geistliche kritisch. „Was soll da stattfinden? Zunächst Konzerte und später Disco? Das sollte nicht sein.“ Er habe die Leitung der GdG erst 2018 übernommen, als die meisten schon umgezogen waren. Der Heimatverlust sei vor allem ein Generationenthema. Die Älteren hätten es als sehr tragisch erlebt. „Ich denke, die jüngere Generation hat sich schnell gefunden. Der Umzug hat die Menschen auch näher zusammengebracht. Man sieht, dass es eine lebendige Gemeinschaft ist.“
Das bestätigt Reiner Lövenich, der in Inden/Altdorf im Verein Neue Horizonte und außerdem im Vorstand des Vereins zur Förderung kirchlicher Umweltberatung (FKU) engagiert ist. „Jede Heimat hat Geschichte. Die ist verschwunden. Es bleiben nur langsam und schmerzhaft verblassende Erinnerungen und die oft gehörte Aussage: ‚Es ist bald dasselbe wie im Krieg, bloß dass du da wiederkommen konntest.‘“ Über das Thema Heimat und die Bedeutung des Umsiedlungsprozesses vor allem für Senioren hat er mit Diana Seiboldt eine Befragung vorgenommen und Erkenntnisse wie diese veröffentlicht: „Heimat dient oftmals im Alter als Kraftquelle, und wird die Heimat genommen, wird auch der Lebensmut genommen.“ Reiner Lövenich hat auch persönliche Erfahrungen: Vieles sei mit Gefühl, Geschichten und den zugehörigen Menschen verbunden. Seine Eltern hätten durch den Umzug ihren Bauernhof aufgeben müssen. „Für meinen Vater war das auch ein Verlust seiner Identität.“
Mit diesen Themen ist Hans-Otto von Danwitz, der jüngst als leitender Pfarrer im pastoralen Raum Jülich-Aldenhoven eingeführt wurde, seit der ersten Pfarrstelle in Inden vertraut. Mit Lich-Steinstraß und Neu-Pattern gehören zwei Umsiedlungsorte zu seinem neuen Seelsorgebereich. Bei der Veranstaltung mit dem Nabu und Bund zur Gestaltung des Seerandes in Schophoven seien die Emotionen bei denen, die die Umsiedlung erlebt hätten, noch einmal sehr hochgegangen. „Wenn Sie wüssten, was wir alles verloren haben!“, habe ein Teilnehmer gesagt. „Da ist mir noch mal bewusst geworden, wie intensiv dieses Thema ist, Heimat zu verlieren. Ich habe es damals in Inden/Altdorf erlebt, wie viele Tränen es beim großen Zapfenstreich gab. Es war schon das Ereignis, das die Menschen in ihrem Leben geprägt hat.“