Der Zeigefinger muss locker bleiben und gleichzeitig Spannung haben. Ist er zu locker, kommt die Saite nicht genug in Schwingung, der Ton wird zu leise. Ist der Finger zu fest, dann wird der Ton blechern.
Welche Saite wann und wo gezupft werden muss, sagt das „Notenblatt“, das unter den Saiten liegt. Notenlesen muss niemand können, der die Veeh-Harfe spielen will. Trotzdem erklingen bei der Probe des Orchesters „Harfenklang Hückelhoven“ die Melodien „Happy Birthday“, „Möge die Straße“ und „Wir sagen Euch an den lieben Advent“ durch den Saal des Pfarrheims in Hückelhoven-Baal. Die letzte Probe vor dem Konzert am 1. Advent.
Es ist einige Jahre her, dass Gemeindereferentin Brigitta Schelthoff das Instrument bei einer Witwe entdeckte. „Die Dame sagte mir, dass es sich um eine Veeh-Harfe handele und dass sie und ihr Mann jeder eine gespielt hatten“, sagt Schelthoff. „Sie spielte mir vom Unterlegblatt das Lied ,Ännchen von Tharau‘ vor und ich war sehr berührt von den leisen schwingenden undmeditativen Klängen.“ Das Lied gab der Witwe Trost und Hoffnung nach dem Tod ihres Mannes. Weil man das Instrument in kurzer Zeit erlernen kann und es gerade für Menschen geeignet ist, die keine Noten lesen können, beschloss Schelthoff, das Instrument in der Arbeit mit Trauernden mit einzubeziehen.
Dass Musik Gefühle verstärken kann und Schmerzen lindern, weiß die Psychologie schon seit einigen Jahren. Wie im Fall der Witwe weckt Musik gerade in der Trauer oft Erinnerungen, die mit den Verstorbenen in Verbindung gebracht werden. Das lässt der Trauer Raum und löst Gefühle aus. Für Trauernde kann darin Trost und Hoffnung liegen.
Nachdem sie selbst das Instrument gelernt hat, hat Schelhoff bei ihrer Arbeit als Trauerbegleiterin ihre Klientinnen und Klienten angesprochen, ob sie Interesse daran haben. Auch den Kantor Georg Pusch, der in den neun Pfarrgemeinden von Hückelhoven als musikalischer Leiter tätig ist, und José Soto-Perez, Dirigent der Baaler Gruppe, konnte sie davon überzeugen. Die beiden haben die Ausbildung zum Veeh-Harfen-Mentor gemacht und geben seitdem Unterricht. Im April 2024 entstand das Veeh-Harfen-Orchester „Harfenklang Hückelhoven“.
Heute sind in dem Orchester nicht nur Frauen, die aus ihrer Trauer heraus zum Harfenspiel kamen. „Mit der Musik kannst Du manchmal alles vergessen oder Dich an alles erinnern“, sagt Ilona Fajger, die durch eine Harfen-Freundin zum Orchester gekommen ist. „Es ist schon sehr emotional, wenn ich Lieder spiele, die meine Mutter gerne gehört hat – oder meine Schwester.“
Manche im Orchester haben sich eigene Instrumente gekauft, andere spielen auf Leihinstrumenten. Auch wenn das Spiel ein Hobby mit psychologischer Zusatzwirkung ist, achtet Dirigent José Soto-Perez auf Exaktheit. „Bitte sauber spielen“, weist er die Harfenistinnen an. „Datadadanaa, pampampam, dadadanaaa“, gibt er lautmalerisch das Tempo vor. „Genau das, das war sauber“, lobt er, als die Musikerinnen den Tönen den richtigen Klang geben.
Es braucht Konzentration, um die Lieder zu spielen. Nur, wenn das Klangblatt exakt unter den Saiten liegt, können sie auch richtig gespielt werden. Lange Fingernägel sind da hinderlich, weil mit ihnen nur allzu leicht das Blatt verschoben wird. Das Ergebnis sind dann hörbar schiefe Töne. Ein bisschen erinnert das Prinzip an „Malen nach Zahlen“.
Schelthoffs Idee ist mittlerweile auch preisgekrönt. Gerade hat das Orchester den 3. Platz bei der Verleihung des Heimatpreises des Kreis Heinsberg gemacht. „Die Musiker bringen Klang in Klassenzimmer, Glanz in Seniorenheime und Gänsehaut in Konzertsäle. Sie zeigen: Kultur muss nicht laut sein, um Eindruck zu machen. Manchmal reicht ein gezupfter Ton – und schon ist die Welt ein bisschen schöner“, heißt es in der Begründung der Jury. Es ist bereits der zweite Preis, den das Orchester bekommen hat. Schon im Sptember dieses Jahre wurde die Gruppe mit dem zweiten Platz des Heimatpreises Hückelhoven ausgezeichnet.
„Wenn die Worte fehlen, bleibt die Musik“, umschreibt Schelthoff das Konzept, mit dem alles angefangen hat. Am Anfang sei es nur darum gegangen, sich in Dur- und Moll-Töne einzufühlen. „Im Leben gibt es ja nicht nur Dur-Töne“, sagt sie. „Sondern auch die Moll-Töne, die für traurige Stimmungen stehen.“ Daraus sei der Wunsch erwachsen, auch richtige Lieder in einer Gruppe spielen zu können.
Die Gruppe ist offen für alle, die mitmachen wollen. Weil die Veeh-Harfe ein niedrigschwelliges Instrument ist, ist das Spiel sehr integrativ. „Ich kenne Menschen, die nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt sind, im Rollstuhl sitzen und doch in einer Gruppe mitspielen“, sagt Schelthoff. Interessierte können sich bei Kantor Georg Pusch unter Telefon 0178/ 23 323 28 melden.