„Meistens geht es um mehr…“

Projekt „Durchblick“ der Caritas hilft nicht nur bei Papierchaos, sondern auch bei der Ordnung im Leben

Wer mit seiner Verzweiflung alleine ist, dem fehlt oft der „Durchblick“. (c) Foto: Ulrike Mai / pixabay.com
Wer mit seiner Verzweiflung alleine ist, dem fehlt oft der „Durchblick“.
Datum:
21. Juli 2020
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 30/2020 | Ursula Weyermann

„Eine Mutter-Kind-Kur hat den Ausschlag gegeben“, blickt Silvia Jansen* zurück. In dem Abschlussbericht habe „Seelische Verwahrlosung“ gestanden. Da sei ihr klar geworden: „Ich muss was tun.“ Jetzt sitzt die 47-Jährige mit Brigitte Schall-Wagner und Ursula Metze an einem Tisch und ordnet ihre Unterlagen. Und damit ein bisschen auch ihr Leben.

„Durchblick“ heißt das Projekt der Caritas Düren-Jülich, und es soll Menschen unterstützen, die selbigen verloren haben. Im Mai 2019 hat die Diplom-Sozialpädagogin Brigitte Schall-Wagner mit engagierten Ehrenamtlerinnen das Hilfsangebot gestartet. Für die Ratsuchenden gibt es Aktenordner, A–Z-Register, Locher, Tacker und Hilfe, nicht nur beim Sortieren des Papierchaos.

„Was müssen Sie jetzt bloß von mir denken?“, reicht Silvia Jansen geöffnete und ungeöffnete Briefe an das Team weiter. „Dass Sie mutig sind und sich dem Problem stellen“, antwortet Ursula Metze. Die gelernte Erzieherin ist seit 2002 ehrenamtlich für die Caritas im Einsatz. Aus Gesundheitsgründen musste sie frühzeitig aus dem offiziellen Arbeitsleben ausscheiden. Etliche Jahre hat sie nun schon in der Einzelfallhilfe gearbeitet. Lebensgeschichten wie die von Silvia sind ihr vertraut. Brigitte Schall-Wagner bietet Kaffee, Wasser und Plätzchen an. Eine angenehme Atmosphäre ist wichtig.

Trennung, Tabletten, Suizidversuch. Silvia hat eine heftige Zeit hinter sich. Die Tabletten hat sie wegen der Schmerzen genommen. Die Dosis hat sie stetig erhöht. Hat sich Rezepte bei verschiedenen Ärzten geholt. Vom Ehemann ist sie seit zehn Monaten getrennt, der hat sich wieder seiner Exfreundin zugewendet. Die gemeinsame Tochter lebt bei ihr. Und die Zehnjährige ist auch ein ganz wichtiger Grund für die Bäckereifachverkäuferin, nicht aufzugeben. Nicht aufgeben hat dann letztlich auch Entzug bedeutet. „Heute bin ich seit 31 Tagen ohne Tabletten“, erzählt Silvia nicht ohne Stolz und öffnet dabei weitere Briefe.

Zu Frau Schall-Wagner hat sie schon vor einiger Zeit Kontakt aufgenommen. Einen Termin hat sie wegen des Entzugs verschoben. „Aber jetzt sind Sie hier“, sagt die Fachfrau. „Und Sie können so oft kommen, wie Sie möchten.“ Zunächst geht es nur um das Aktenordnen und den Handlungsbedarf, der sich aus den Briefen ergibt. Ein sogenanntes „niederschwelliges Angebot“. Darüber hinaus können noch andere Angebote der Caritas in Anspruch genommen werden.

Brigitte Schall-Wagner wirft einen Blick auf den wilden Haufen von Briefen in der Mitte des Tisches, der sich ganz allmählich auflöst: „Es sind schon Ratsuchende mit wesentlich mehr Papieren gekommen.“ Einmal habe eine Frau einen Wäschekorb voller Unterlagen dabei gehabt. „Da kommt man dann nicht mit einem Mal hin.“ Pro Termin nehmen sich die Fachfrau und die Ehrenamtler zwei Stunden Zeit. „Dann lässt auch allmählich die Konzentration nach“, sagt Ursula Metze. Das weiß auch Blanka Winkler, die ebenfalls ehrenamtlich das „Projekt Durchblick“ unterstützt. Sie hat vor ihrer Pensionierung bei einer Bank gearbeitet und kann noch einen ganz anderen Blick auf so manches Schreiben werfen. So findet sie bei einem Schreiben eines Inkassounternehmens auf Anhieb den Ursprungsgläubiger. Das hilft beim weiteren Sortieren.

Arztbriefe, Job-Com, Rentenversicherung, Schulden… Allmählich kristallisieren sich Schwerpunkte heraus. Silvia Jansen locht, heftet ab und wagt ein Lachen dabei: „Das ist befreiend!“

Sie will wiederkommen. Heute hat sie nur eine Stunde Zeit, weil die Tochter hohes Fieber hat. Einige Briefe werden aussortiert. Werbung ist dabei, Post für den Noch-Ehemann und eine Telefonrechnung für dessen Neffen. Und manche Dinge haben sich längst erledigt. Damit wird der Haufen der Unterlagen, die Silvia direkt betreffen, kleiner. „Haben Sie eine Zusatz-Krankenversicherung?“, fragt Schall-Wagner. „Nein.“ Das Schreiben, das wie eine Rechnung aussieht, ist eigentlich nur ein Angebot. Sehr geschickt gemacht. Manche fallen darauf herein und zahlen. Und mit dieser Zahlung haben sie dann ihre Mitgliedschaft anerkannt. Das Schreiben der Versicherung landet auf dem Haufen für den Schredder. Silvia Jansen packt zusammen: Ihren Ordner, in dem schon einige Unterlagen abgeheftet sind, und zwei DIN-A-4-Umschläge, in die Ursula Metze die restlichen Briefe gesteckt hat. Ein letztes „Danke“ in die Runde, dann geht Silvia Jansen.

„Das ist ein klassischer Fall“, sagt Fachfrau Schall-Wagner. „Psychische Probleme und Sucht führen häufig dazu, dass Menschen den Überblick verlieren und keine Kraft mehr haben, sich mit dieser Flut an Briefen auseinanderzusetzen.“ Aber „den“ typischen Fall gibt es nicht. „Da war zum Beispiel eine ältere Frau, die von ihrer Tochter von unserem Angebot erfahren hat“, erinnert sich Ursula Metze. Brigitte Schall-Wagner erzählt von einem jungen Mann, der seit einem Unfall an einem Schädelhirntrauma und damit verbundener Konzentrationsschwäche leidet. Und dann gebe es da noch die Mutter, die die Betreuung für ihre psychisch kranken, aber volljährigen Kinder hat. „Es war auch mal eine junge Frau bei uns“, erzählt Ursula Metze. „Die wollte einfach nur ein Ordnungsprinzip gezeigt bekommen, weil sie so etwas nie gelernt hat.“

„Aber meistens geht es schon um mehr“, ergänzt Schall-Wagner. Und die Ratsuchenden bleiben zur allgemeinen Sozialberatung, Schuldnerberatung oder Einzelhilfe durch die Ehrenamtler.

*Der Name wurde von der Redaktion geändert.

 

Zur Info

Brigitte Schall-Wagner (links) und Ursula Metze helfen Silvia Jansen* dabei, sich einen Durchblick zu verschaffen. (c) Foto: Ursula Weyermann
Brigitte Schall-Wagner (links) und Ursula Metze helfen Silvia Jansen* dabei, sich einen Durchblick zu verschaffen.

Das Projekt Durchblick

Wer in der Region Düren oder Eifel wohnt und den Überblick über seinen „Papierkram“ verloren hat, kann sich vertrauensvoll an Brigitte Schall-Wagner wenden. Die Beratung ist kostenlos und anonym. Jeden 1. und 2. Dienstag im Monat steht das Team beim Caritasverband Düren-Jülich in der Kurfürstenstraße 10–12 bereit. Weitere Auskunft und Anmeldung unter Tel. 02421/48169 und E-Mail: bschall-wagner@caritas-dn.de.