Lützerath – (k)ein Trauma

Polizeiseelsorger Manfred Kappertz war bei der großen Demo dabei und schildert hier seine Eindrücke

Das Ortsschild von Lützerath vor der Räumung (c) Afranz1982/CC BY-SA 4.0 (via wikimedia commons)
Das Ortsschild von Lützerath vor der Räumung
Datum:
25. Jan. 2023
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 04/2022

Im Konflikt um Lützerath hat Bischof Helmut Dieser zu Gewaltfreiheit und Respekt vor dem Rechtsstaat aufgerufen. „Friedliche Proteste sind zentraler Bestandteil einer lebendigen Demokratie“, und „zu einem glaubwürdigen Rechtsstaat gehört aber auch, dass Regeln und Vereinbarungen eingehalten werden“ waren seine Worte. Wie sich das vor Ort darstellte, berichtet Polizeiseelsorger Manfred Kappertz.

In diesen Tagen hat mich mein Dienst als Polizeiseelsorger nach Lützerath gebracht – und zwar mit gemischten Gefühlen und Fragen: Da ist zum einen Gottes Schöpfung, in der ER uns eingeladen hat zu leben. Eine Schöpfung die wir nachhaltig zerstören? Es geht um unser Klima – es geht um unsere Kinder. Ich stelle mir auch die Frage, was wäre, wenn mein Heimatdorf abgebaggert würde – wenn meine Heimat ausgelöscht würde?

Als Polizeiseelsorgender in Einsatzbegleitung frage ich mich, welche Bilder die Polizisten erwarten und wie sie mit all dem umgehen werden. Und in meiner Rolle als Ethiklehrender der Hochschule der Polizei in Aachen: Gerade in den nächsten Wochen behandeln wir in den Lehrveranstaltungen das Thema Gewalt. Gewalt, die die Polizei anwenden muss (Potestas) und auch die illegitime Gewalt (Violentia), die die Polizei unterbinden muss.

Bei der Räumung von Lützerath selbst habe ich wahrgenommen, dass viele Menschen friedlich und freiwillig den Ort verlassen haben. Andere haben sich in ihrem Protest sprichwörtlich festgehalten (Stichwort: LockOn). Wieder andere haben leider ihren Protest in Gewalt ausgedrückt und Steine oder sogar einzelne Molotowcocktails geworfen. 
Aber, um es deutlich zu sagen: Die Gewalt war sicher nicht prägend für den Räumungseinsatz. Im Gegenteil: Auch Baumhäuser wurden zumeist ohne Gegenwehr geräumt. Manche nach Stunden, manche nach Tagen.

Am Samstag strömten immer mehr Menschen zur Protestdemo nach Keyenberg. 5000,
10 000, 15 000 … Es war nass, es war kalt, es war windig und alles schien im Schlamm zu versinken. Der Demonstrationszug setzte sich in Bewegung und folgte einem vereinbarten Weg. Nicht weit von Lützerath lösten sich immer mehr Menschen aus der Demonstration, immer weiter auf das Dorf zu. Als sie dem Dorf gefährlich nah kamen, erfolgten Durchsagen der Polizei: „Verlassen Sie den Raum!“ 

Eine große Zahl Demonstranten wollte ihre Räumung rückgängig machen

Eine große Zahl von Demonstranten wollte die „Zaun- und Wagenburg Lützerath“ stürmen. Sie wollten ihre Räumung wieder rückgängig machen. Die Polizei musste reagieren. Ich selbst stand dabei hinter der Absperrung der Polizei, empfand die Bilder die ich sah, als sehr bedrohlich. Demonstranten, die versuchten, die Absperrung zu durchbrechen. Polizei, die nun Schlagstöcke, Pfefferspray und Wasserwerfer einsetzte.  All die Bemühungen vor und während der Räumung, diese Bilder zu vermeiden, schien vergeblich gewesen zu sein.  
Jetzt war sie da, die Gewalt: die staatliche legitimierte Gewalt (Potestas) als Zwangsmaßnahme, wie die illegitime Gewaltanwendung (Violentia), und es galt, sie zu begrenzen. Wie bei allen dynamischen Prozessen ist dies nicht einfach. Einmal entfesselt, wird bei allen Beteiligten Adrenalin und Cortisol ausgeschüttet – eine angeborene Alarmreaktion unseres Nervensystems. Kämpfen oder fliehen.

Diese Bilder machen Angst, das Erlebte, Erfahrene wird zur Belastung und führt oft zu psychischen Konflikten, die von jedem verarbeitet und bewältigt werden müssen. Jede und jeder von uns ist zu allererst Mensch, ist Sohn oder Tochter, Vater oder Mutter, Partner(in), Ehemann und -frau. Wir alle leben in einer Welt. Eine Welt, die der liebe Gott uns anvertraut hat und die in Lützerath nicht mehr funktioniert hat.

In Lützerath gab es nur Verlierer. Ein Protest, der in einer Gewalteskalation endet, ist nicht Bestandteil einer lebendigen Demokratie. Also reden wir miteinander, damit Lützerath nicht zum Trauma für Polizisten und Demonstranten und für uns als Gesellschaft wird. Damit in einem Miteinander erfahrbar wird, was uns verbindet und nicht trennt.