Liebe deinen Nächsten wie Dich selbst

Selbst(für)sorge als Maßstab der Liebe: „Selbstannahme ist eine lebenslange Aufgabe. Sich selber annehmen und lieben. Genau das wäre die Rettung. Und dann auf andere zugehen, mich ihnen zumuten – so wie ich bin. Und auch sie achten und lieben.“

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Datum:
18. Sept. 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 38/2024 | Pfarrer Hans Russmann

Wie oft hat man aus dem Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe ein Gebot gemacht, das uns anstrengt und überfordert uns jedenfalls kaum sensibel macht für das, was auch uns selbst guttut. Wer vor Gott bestehen will muss von sich selbst absehen und möglichst viele Taten der Nächstenliebe vorweisen – das ist für viele das Ergebnis ihrer religiösen Erziehung. 

Ist das nicht auch der Motor für viele Engagierte in der Sterbe- und Trauerbegleitung- für andere selbstlos da zu sein? Die Selbstliebe ist vielen bis auf den heutigen Tag nicht geheuer. Bei vielen regt sich das schlechte Gewissen. Das darf man nicht, sich selber lieben, mir selbst etwas gönnen und gut mit mir umgehen, darf ich das wirklich als Christ oder Christin?  

„Liebe deinen Nächsten wie Dich selbst." Das bedeutet doch: Wenn du wissen willst, wie viel du den Nächsten lieben sollst, nimm bei dir selber Maß. So viel wie du dich selber liebst, liebe auch ihn. Die Selbstliebe also als Maßstab und Messlatte unseres Verhältnisses zu anderen! Ist das nicht doch ziemlich riskant? Ist das nicht Wasser auf die Mühlen derer, die ohnehin schon viel zu sehr auf sich selbst schauen und mit nichts so sehr beschäftigt sind als mit sich selbst? Ist das nicht sowieso die große Misere unserer Zeit? Hier ist Selbstliebe deutlich zu unterscheiden von narzisstischer Selbstverliebtheit, die die eigenen blinden Flecken und dunklen Seiten und Abgründe nicht   sehen will und vom blanken Egoismus des Selbstsüchtigen, der nur sich selbst kennt.

Pfarrer Hans Russmann ist Diözesanbeauftragter für Hospizseelsorge im Bistum Aachen (c) privat
Pfarrer Hans Russmann ist Diözesanbeauftragter für Hospizseelsorge im Bistum Aachen

Wie wichtig aber wohlverstandene Selbstfürsorge ist, wird schon in einem Text aus dem 12. Jahrhundert  des heiligen Bernhard von Clairvaux deutlich: Er schreibt in einem Brief an seinen früheren Mönch Papst Eugen III.: „Wo soll ich anfangen? Am besten bei deinen zahlreichen Beschäftigungen, denn ihretwegen habe ich am meisten Mitleid mit dir…. Wenn du dein ganzes Leben und Erleben völlig ins Tätigsein verlegst und keinen Raum mehr für Besinnung vorsiehst, soll ich dich da loben? Darin lob ich dich nicht. Ich glaube, niemand wird dich loben, der das Wort Salomons kennt: „Wer seine Tätigkeit einschränkt, erlangt Weisheit.“(Sir 38,25)

…Ja, wer mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann der gut sein? Denk also daran: Gönne dich dir selbst. Ich sag nicht: Tu das immer, ich sage nicht: Tu das oft, aber ich sage: Tu es immer wieder einmal. Sei wie für alle anderen auch für dich selbst da, oder jedenfalls sei es nach allen anderen.“ Ich habe den Eindruck, dass es um die Selbstliebe auch heute immer noch schlecht bestellt steht. Vielleicht machen sie einmal die Übung zehn Eigenschaften von sich aufzuschreiben, die sie an sich schätzen, die sie liebenswert finden – und ich vermute es wird keine ganz einfache Übung sein. Und noch schwerer ist es zu glauben, wirklich zu glauben, dass ich auch mit den Schatten, mit den dunklen Seiten meines Lebens mit meinen Abgründen geliebter Sohn, geliebte Tochter Gottes bin. Selbstannahme ist eine lebenslange Aufgabe. Sich selber annehmen und lieben. Genau das wäre die Rettung. Und dann auf andere zugehen, mich ihnen zumuten – so wie ich bin. Und auch sie achten und lieben.