Licht ist unerlässlich zum Erkennen der Welt. Licht ist zwar physikalisch erklärbar, aber doch weitaus mehr als eine Ansammlung von Photonen. Fotografen brauchen Licht, denn ohne gibt es keine Fotografien. Fotografieren heißt ja aus dem griechischen Ursprung übersetzt: zeichnen mit Licht. Und wer das Glück hat, an einem wolkenfreien Tag zur entscheidenden Stunde über die Wiesen südlich des belgischen Örtchens Borg-loon zu spazieren, der erlebt ein Bild in der freien Landschaft, das freilich dem Geist eines Lichtzeichners entsprungen sein könnte.
Zunächst ist das Bild gar nicht so recht fassbar. Es zeichnet sich eine Silhouette ab gegen die tiefstehende Sonne. Und geht man weiter, scheint die Sonne durch das Gebäude hindurchzuscheinen. Geht man näher heran, wird einem gewahr, dass genau das der Fall ist.
Man steht vor dem mittlerweile schon berühmt gewordenen „Durchguckkirchlein“ von Borgloon. „Doorkijkkerkje“ wird es hier im Flämischen liebevoll genannt. Und das ist es ja auch. Licht spielt hier eine entscheidende Rolle. Und der Blick ist entscheidend. Je nachdem, aus welcher Entfernung, aus welcher Höhe und in welchem Winkel man das kleine Kirchlein betrachtet – jede Kopfbewegung lässt es anders erscheinen. Mal komplett transparent, mal kompakt und undurchdringlich. Ein Faszinosum, an dem sich schon zehntausende Menschen kaum sattsehen konnten.
Eigentlich ist das Kirchlein gar keine Kirche, sondern ein Kunstwerk mit dem Namen „Reading Between the Lines“ (Lesen zwischen den Zeilen). Geschaffen haben es die belgischen Architekten und Künstler Pieterjan Gijs und Arnout Van Vaerenbergh im Rahmen einer Ausstellung im öffentlichen Raum im Jahr 2011. Die Form der Kirche wurde nicht aus religiösen Erwägungen gewählt, sondern aufgrund der Eigenschaft einer Kirche als weithin sichtbarer Orientierungspunkt in Dorf, Stadt oder Landschaft.
Die Transparenz entsteht durch die verwendeten Materialien. Diese ermöglichen einen immerwährenden Blick auf die umgebende Landschaft, egal, ob von innen oder von außen – immer durch die „Wände“ hindurch.
Das Gebäude besteht aus 100 Lagen Platten aus gerostetem Stahl. Die Platten sind jeweils einen Zentimeter stark und durch neun Zentimeter lange Stahlzylinder miteinander verbunden. Insgesamt sind über 2000 Platten verbaut, so dass das Kirchlein es auf eine Höhe von immerhin zehn Metern und ein Gesamtgewicht von über 30 Tonnen bringt.
Viele Menschen haben sich schon an einer Interpretation des Kunstwerks versucht. Ob dabei die Kirche und ihre heutige Rolle in der Welt im Mittelpunkt standen oder die Kirche auch als Ort der Kunst oder schließlich doch als Ort der Anbetung – jeder ist eingeladen, dieses einzigartige Bauwerk und alles, was es ausstrahlt oder was hindurchscheint, auf sich wirken zu lassen.
Das Kirchlein ist zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar.
Parken sollte man am Sint-Truider-steenweg in Borgloon (N 79 – aus Tongern kommend). Eingaben im Navigationsgerät: „Parking Reading between the Lines“.