Lebendiges Erbe

Eine Ausstellung befasst sich mit der Rheinischen Martinstradition

Jeyaratnam Caniceus, Jürgen Pankarz und René Bongartz (v. l.), die „Väter der Ausstellung“. (c) Kulturerbe St. Martin
Jeyaratnam Caniceus, Jürgen Pankarz und René Bongartz (v. l.), die „Väter der Ausstellung“.
Datum:
2. Nov. 2022
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 44/2022 | Kathrin Albrecht

Seit 2018 ist die Rheinische Martinstradi-tion immaterielles Kulturerbe des Landes NRW. Die Entstehungsgeschichte der Tradition, ihre Besonderheiten und die Strahlkaft über die Landesgrenzen hinaus zeigt jetzt die Wanderausstellung „Kulturerbe 
St. Martin“. 

Das Martinsfest am 11. November läutet gewissermaßen den Endspurt zu den großen Festen zum Jahresende ein. Und gleichzeitig macht es die schon spürbar gewordenen ruppigeren Witterungsbedingungen und die zunehmende Dunkelheit mit den Laternenumzügen, dem Martinsfeuer und den Gesängen ein wenig erträglicher. 
Jeyaratnam Caniceus, parteiloses Ratsmitglied der Stadt Kempen, lebt seit 1994 in der niederrheinischen Stadt, kam dort mit der Martinstradition in Berührung und war sofort begeistert. „Es ist wirklich ein Fest für alle.“

Gemeinsam mit dem Brüggener René Bongartz setzte er sich für die Anerkennung der Rheinischen Martinstradition als immaterialles Kulturerbe in NRW ein. Als die Anerkennung in der St.-Josefs-Kirche in Kempen mit einer Ausstellung gefeiert werden sollte, mussten die beiden Initiatoren feststellen, dass es mitten im Martinsland kaum etwas schriftlich Festgehaltenes dazu gab. Aus Baden-Württemberg lieh man sich eine kleine Ausstellung, die die wichtigsten Daten zum Heiligenfest zusammenfasste. So war die Idee, hier etwas eigenes auf die Beine zu stellen, geboren. Vier Jahre sollte es von der Idee bis zur Ausstellung dauern. Bongartz und Caniceus trugen Informationen zusammen, knüpften Kontakte zu Sponsoren. Caniceus gewann für die Illustrationen den Kempener Zeichner Jürgen „Moses“ Pankarz, der bekannt für seine liebevoll gestalteten Kinderbücher ist. 20 Illustrationen sind entstanden, die als Roll-ups einen Überblick über Geschichte und rheinische Tradition geben.

Seinen Ursprung hat das Martinsfest im Gedenktag des heiligen Bischofs Martin von Tours, der, 316 im heutigen Ungarn geboren, als römischer Soldat diente, in Amiens stationiert wurde und dort einem Bettler begegnete, mit dem er seinen Mantel teilte. Diese Tat bildet den Kern der Legende und der Mantelteilung, die auch heute bei jedem Martinszug den Höhepunkt bildet. Zum Christentum bekehrt, ließ sich Martin mit 35 Jahren taufen, trat in die Dienste des Bischofs von Poitiers, lebte eine kurze Zeit als Einsiedler, bevor er selbst Klöster gründete und im Alter von etwa 54 Jahren zum Bischof von Tours geweiht wurde. Bereits im 5. Jahrhundert ist eine Heiligenverehrung für Martin nachweisbar. Sein Mantel (capella, Wurzel für die Begriffe Kaplan und Kapelle) stieg zur Reichsreliquie und er selbst zum Heiligen der Franken auf.

Sein Todestag und seine Beisetzung fielen mit einer Reihe von Bauernfeiertagen zusammen, die bald den Grundstock für eine Reihe von Martinsbräuchen legten, die wir heute noch kennen. So fiel die Zeit um den 11. November mit dem Ende des Bauernjahres zusammen. Die Ernte war eingebracht, der neue Wein wurde erstmals verkostet, das Vieh geschlachtet und die Früchte verarbeitet. Vielfach wurde die Pacht fällig (oft entrichtet in Form der Pachtgans), die Knechte und Mägde konnten ihre Familien besuchen. In Gallien war Martini der letzte Tag vor der sechswöchigen Adventsfastenzeit, die bis zum Fest Epiphanias andauerte und die mit einer Art Lichterfest begann.

Martini war damit eine Art Schwellentag, ähnlich wie der Aschermittwoch in der Karnevalszeit. Kinder zogen durch die Nachbarschaft und sammelten Holz für das Feuer. Außerdem erhielten sie Gebäck, das im Fett der geschlachteten Tiere ausgebacken war. Dem Kinderzug voraus lief ein huckepack getragenes Kind, das Martinsmännlein. Später wurde das Kind auf ein Pferd gesetzt und schließlich wurde aus dem „Martinsmännlein“ der heilige Martin. Aus dem Martinsmännlein entwickelte sich außerdem der „Hoppeditz“, der im niederrheinischen Karneval eine zentrale Rolle spielt.

Weil die preußische Obrigkeit und die Kirche an den unkontrolliert durchgeführten Kinderumzügen Anstoß nahmen, wurden die Umzüge zunehmend institutionalisiert und von Lehrern und Pfarrern organisiert. Der erste Martinszug dieser Art fand 1867 in der Gemeinde Dülken statt. 19 Jahre später reitet in Düsseldorf zum ersten Mal ein als St. Martin verkleideter Junge dem Zug voran. In den folgenden Jahren verbreiten sich die Martinszüge vom Niederrhein bis zur Voreifel.

In vielen europäischen Ländern gibt es  eigene alte Martinstraditionen

Natürlich darf diese Szene nicht fehlen: Die Mantelteilung, die den Kern der Legende Martins und seiner Verehrung bildet. (c) Kulturerbe St. Martin
Natürlich darf diese Szene nicht fehlen: Die Mantelteilung, die den Kern der Legende Martins und seiner Verehrung bildet.

Über die rheinischen Grenzen hinaus verbreitete sich die Martinstradition im übrigen Deutschland durch die Kriege, denn die rheinischen Soldaten veranstalteten in den Schützengräben Martinszüge. Sie ergänzten andere Martinstraditionen, wie das Martinssingen im norddeutschen Raum.

Und so möchten es Bongartz und Caniceus nicht nur beim kulturellen Erbe auf Landesebene belassen. Angestrebt ist, das immaterielle kulturelle Erbe auch auf Bundesebene zu erreichen. Dazu soll bei einem Treffen der Martinsvereine am 
14. Januar 2023 in Viersen-Süchteln ein Verbund gegründet werden, der die Anerkennung auf Bundesebene vorantreibt. Dazu halten und suchen Bongartz und Caniceus Kontakt mit den örtlichen Martinsvereinen.

Nicht nur in Deutschland, auch in vielen Ländern Europas haben sich alte Martinsbräuche erhalten. In Kroatien bringt beispielsweise Bischof Martin am 11. November den jungen Wein. In der Stadt Utrecht ist die Martinstradition seit 2013 immaterielles kulturelles Erbe. Auch in Frankreich und Ungarn streben Kulturerbe-Initiativen den Titel an. Das Erbe nicht nur bewahren, sondern lebendig zu halten und weiterzugeben ist der Antrieb hinter diesen Initiativen. „Die St.-MartinsGeschichte geht unendlich weiter“, sagt Caniceus, der auf europäischer Ebene den Kontakt zu den Initiativen hält.

Das soll auch für die Ausstellung gelten. Prinzipiell ist sie erweiterbar, auch für eigene lokale Bräuche, wie in der Stadt Kempen, wo es in der aktuellen Ausstellung im Kulturforum Franziskanerkloster hierzu ein zusätzliches Roll-up gibt. Die Ausstellung stößt bereits auf reges Interesse. Bereits für das kommende Jahr verbucht René Bongartz Anfragen.

Ausstellung an zwei Orten

Wer die Ausstellung besuchen möchte, hat in Kempen noch bis 15. November im Kramer-Museum des Kulturforums Franziskanerkloster Gelegenheit (geöffnet Dienstag bis Sonntag 11 bis 17 Uhr, Donnerstag bis 18 Uhr). In Viersen eröffnet die Ausstellung im Rahmen des Martinsmarktes am 4. November und ist bis zum 14. November im Stadthaus Viersen zu sehen (geöffnet Montag bis Freitag 9 bis 17 Uhr). Kirchen, Kindertagesstätten, Schulen und andere Einrichtungen, die die Ausstellung ausleihen möchten, erhalten Auskunft über die Webseite www.martinstradition.de oder bei Jeyaratnam Caniceus, Tel. 01 71/3 63 61 56, und René Bongartz, 01 77/1 75 32 14.