„Rechtsextremismus ist auf dem Weg, Teil der Popkultur zu werden“, stellte der Redaktionsleiter Politik und Magazin der „Rheinischen Post“, Martin Bewerunge, im Juni nach der Europawahl fest.
Bewerunge spielte darauf an, dass meist junge Menschen auf Partys und in Diskotheken zur Musik von Gigi D’Agostinos „L’Amour toujours“ die frühere NPD- und Neonazi-Parole „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“ skandierten. In rechten Kreisen wurde das Lied, das weder einen Text noch einen rechten Hintergrund hat, später nur noch als „Döp döp“ oder „Döp dödö döp“ bezeichnet. Alsbald wusste man auch außerhalb des organisierten rechten Spektrums, was das bedeutet.
Nach mehreren Vorfällen bei dem Lied auf Feiern und Schützenfesten am Niederrhein distanzierten sich die betroffenen Schützenbruderschaften, andere untersagten im Sommer dann DJs und Musikern, das Lied auf Feiern und in Festzelten zu spielen. Im rechten Spektrum wurde nach ähnlichen Schritten immer wieder die Opfererzählung gestreut, dass „Woke“ oder „Linksrotgrüne“ nun mittels „Cancel Culture“ ein harmloses Lied verböten.
Sind Rassismus, Fremden- und Ausländerfeindlichkeit also Pop – und wie weit wirkt der organisierte Rechtsextremismus auf die Mitte der Gesellschaft ein? Künftig zum Bürgertum gehören wollte Mitte 2019 auch die Alternative für Deutschland (AFD). Seinerzeit entstand ein internes Strategiepapier namens „Strategie 2019 – 2025. Die AFD auf dem Weg zur Volkspartei“, das der AFD den Weg zur „respektierten Volkspartei“ ebnen sollte.
Denn trotz der Radikalisierung will sie eine normale Partei sein. Der Sechsjahresplan skizzierte, wie die AFD einen „Imagewandel“ hin zur „liberal-konservativ-patriotischen Volkspartei“ vollziehen sollte. Das Schreiben mit 72 Seiten plädierte dafür, dass die AFD und ihre Mitglieder bis zur Bundestagswahl 2025 in Vereine, Stadtteil- und Nachbarschaftsgruppen, Bürgerinitiativen und Gewerkschaften vordringen sollten. Es gehe darum, sich zu etablieren und als Teil der Bürgergesellschaft wahrgenommen zu werden.
Es kam jedoch anders. Als der ehemalige Parteichef Jörg Meuthen Anfang 2022 die AFD verließ, sagte er: „Die Radikalen haben die AFD übernommen.“ Laut dem Sechsjahresplan sollten ab 2019 bestimmte Wählerschichten und Berufsgruppen angesprochen werden: zum einen die „kleinen Leute“, also Handwerker, Selbstständige, Arbeiter und Angestellte, aber auch Menschen aus dem konservativ-liberalen Bürgertum.
Ebenso sollten junge Anhänger und Nichtwähler für die Partei gewonnen werden. Betont wurde 2019 ebenso, wie wichtig es für die AFD sei, Menschen mit Migrationshintergrund zu gewinnen. Denn: „Die gezielte Ansprache solcher ethnischen Gruppen ist schon alleine deshalb wichtig, um den Vorwurf zu konterkarieren, die AFD sei ‚ausländerfeindlich‘.“
Durch die Correctiv-Recherche – Stichwort Potsdam – wurde der breiten Öffentlichkeit bekannt, dass im extrem rechten Spektrum schon seit Jahren die „Remigration“ propagiert wird. Das Wort ist eine intellektuelle und netter klingende Umschreibung des Neonazi-Klassikers „Ausländer raus!“ Im Landtagswahlkampf in Thüringen plakatierte die AFD den Slogan „Sommer, Sonne, Remigration“, daneben das Bild eines Passagierflugzeugs. „Hier wird positive Sommerurlaubsstimmung mit menschenfeindlicher Programmatik verknüpft, die wir aus der Correctiv-Recherche kennen. Das ist eine neue Dimension der Selbstverharmlosung“, zitierte die „Tageszeitung“ Johannes Hillje, Politikberater und Politikwissenschaftler.
2019 zählte die AFD bundesweit rund 35000 Mitglieder. Radikalisierung, Abspaltungen, Flügelkämpfe und der Rückzug Meuthens ließen die Zahl auf unter 30000 sinken. Heute steuert die AFD auf 50000 Mitglieder zu. In Nordrhein-Westfalen wurde Ende Juli mitgeteilt, dass der Landesverband nun 8000 Mitglieder habe. NRW ist das einwohnerstärkste Bundesland. Zwar verlieren die großen Volksparteien Mitglieder, gleichwohl zeigt der Vergleich die Schwächen der AFD. 2023 betrug die Mitgliederzahl der SPD in NRW rund 87000, der CDU gehörten 2022 zirka 113000 Menschen an.
Der Mitgliederzuwachs bei der AFD verlief parallel zu den Berichten über das „Potsdamer Treffen“ und die Korruptions- und Spionagevorwürfe gegen zwei Spitzenkandidaten für die Europawahl. Trotz der formalen Auflösung des rechtsextremen „Flügels“ um den Thüringer AFD-Landeschef Björn Höcke hat das völkisch-nationalistische Lager an Einfluss gewonnen.
Landesverbände und die Bundespartei wurden zwischenzeitlich von Verfassungsschutzämtern als wahlweise rechtsextrem oder als Rechtsextremismus-Verdachtsfall eingestuft. Klagen der AFD dagegen wurden von Gerichten weitgehend kassiert.
Die im Rechtsstreit vorgelegten Materialsammlungen der Behörden zeigten: Seit Jahren findet eine stetige Radikalisierung und Enthemmung bis in höchste Parteikreise statt, Zivilgesellschaft und Politik führen daher nun auch eine Verbotsdebatte.
Bei der Europawahl 2024 erreichte die AFD bundesweit knapp 16 Prozent und wurde damit zweitstärkste Kraft. In den ostdeutschen Bundesländern erreicht die AFD oft deutlich höhere Prozentzahlen und ist dort teilweise bereits stärkste Partei. Zumindest von den Wahlerfolgen her rückt sie dem Status einer „Volkspartei“ näher.
Zudem gibt es Befürchtungen, dass sie bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg die dominierende Partei in den ostdeutschen Landtagen werden und einen Ministerpräsidenten stellen könnte.
Was die AFD hingegen seit 2019 nicht schaffte: Sie wurde weder eine „respektierte Volkspartei“, noch gelang der „Imagewandel“ hin zur „liberal-konservativ-patriotischen Volkspartei“. Neue Anhänger und Wähler wissen oft sehr genau, wen sie wählen – und vor allem: Warum sie das tun.
Die AFD betreibt Radikal- und Fundamentalopposition. Bereits 2017 attestierte der ehemalige NPD-Vorsitzende Holger Apfel in seinem Buch „Irrtum NPD“ der AFD ein „Staubsauger-Phänomen“ am rechten politischen Rand.
Meint: Die AFD saugte schon damals Mitglieder, Wählerstimmen und Sympathisanten aus dem gesamten rechten Spektrum auf, während die NPD und andere Splitterparteien minimiert wurden. Auch auf dem Gebiet des Bistums Aachen ist dieser Effekt zu beobachten. Längst ist die AFD zur dominierenden politischen Kraft rechts der Union geworden. Bis vor wenigen Jahren war das rechtsradikale bis neonazistische Lager hier noch durch mehrere Parteien und Gruppierungen geprägt.
Die rechtsextreme NPD hat sich inzwischen in „Die Heimat“ umbenannt und ist marginalisiert. Die rechtsradikale Partei „Die Republikaner“ hat ihre Organisationsstrukturen eingebüßt, die fremden- und islamfeindliche Splitterpartei „Pro NRW“ hat sich aufgelöst.
Bis zum Verbot 2012 war in der Region die Neonazi-Gruppe „Kameradschaft Aachener Land“ (KAL) aktiv. Später bauten ehemalige Kader und Mitglieder zunächst einen Aachener Kreisverband der neonazistischen Splitterpartei „Die Rechte“ auf, um später unter deren parteirechtlichem Schutzschild die der KAL ähnliche Gruppierung „Syndikat 52“ zu gründen.
Schlagzeilen machten die Neonazis 2019 mit Schändungen der jüdischen Friedhöfe in Geilenkirchen und Gangelt.
Ansonsten sind diese Parteien und Gruppen heute nahezu inaktiv. Kam es bis vor rund zehn Jahren noch im Gebiet des Bistums regelmäßig zu überwiegend konspirativ veranstalteten Konzerten und Feiern mit rechtsextremen Musikern, finden solche heute nur noch selten hier statt.
Die Organisationsstrukturen haben sich aus unterschiedlichen Gründen – Wohnortwechsel, Verurteilungen, Rückzug ins Private – nahezu aufgelöst. Musiker der Szene haben die Region verlassen, mehrere Influencer, Medienaktivisten und Publizisten des rechten Spektrums sind nun aber aktiv geworden.
Fußballclubs wie Alemannia Aachen und Borussia Mönchengladbach machen zuweilen noch Schlagzeilen wegen rechtsoffener Hooligans, gleichwohl gilt das Problem heute als kaum noch so gravierend wie noch vor einigen Jahren.
Einer der bundesweit reichweitenstärksten Kanäle aus dem Lager der „Reichsbürger“ auf dem Messenger-Dienst Telegram wurde von einem Mann aus dem Kreis Düren unter anderem mit rechtsextremen, rassistischen und antisemitischen Inhalten gefüllt. Gegen ihn wurde mehrfach ermittelt, etwa wegen Volksverhetzung und Holocaustleugnung.
Das NRW-Innenministerium verzeichnete 2023 landesweit 3549 Straftaten mit rechtem politischem Hintergrund (2022: 3453), davon trugen sich 723 im Internet zu (2022: 468). Rechte Gewalttaten wurden in NRW 116 an der Zahl registriert (2022: 117).
Für große Empörung sorgte eine rechte Straftat im Frühjahr 2024. „Euthanasie ist die Lösung“ stand auf dem Stein, der auf eine Wohneinrichtung der Lebenshilfe Mönchengladbach geworfen wurde. Die „Euthanasie“ im Nationalsozialismus war ein systematischer Massenmord an Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen.
Der überwiegende Teil rechter Straftaten richtet sich indes gegen Migranten, Asylsuchende und politische Gegner oder Politiker anderer Parteien.
Die AFD verfügt im Gebiet des Bistums über mehrere Mandatsträger. Die Abgeordneten Kay Gottschalk (Kreis Viersen) und Rüdiger Lucassen (Kreis Euskirchen) vertreten die Partei im Bundestag, der Landesvorsitzende Martin Vincentz (Krefeld) sowie Klaus Esser (Kreis Düren) gehören dem Düsseldorfer Landtag an.
Esser machte zuletzt mehrfach Schlagzeilen, laut Medienberichten habe er etwa Teile seines beruflichen Werdegangs gefälscht, was er bestreitet. In einem Porträt in der aktuellen Ausgabe von „Landtag Intern“ nannte Klaus Esser als Lieblingsbuch: „Die Bibel. Wir sind in der Familie alle gläubige Christen, und die Bibel enthält viele Weisheiten, die uns allen einen guten Weg im Leben zeigen.“
Dort, wo die AFD bei den letzten Kommunalwahlen angetreten ist, ist sie zudem in Kreistagen, Stadt- und Gemeinderäten vertreten. Dass die Partei unterdessen auch im Westen radikaler auftritt, unterstrich eine Kundgebung auf dem Markt in Aachen im September 2023.
Als Redner traten unter anderem Maximilian Krah (Sachsen) und René Aust (Thüringen) auf, beides seinerzeit Spitzenkandidaten für die Europawahl. Ihre Landesverbände gelten bei den Verfassungsschutzbehörden als gesichert rechtsextrem.
Obschon Martin Vincentz den AFD-Landesverband NRW moderat und bürgerlich präsentieren will, teilte er sich mit den beiden die Bühne in Aachen.
Björn Höcke beschrieb die AFD einst als „fundamental-oppositionelle Bewegungspartei“. Mitglieder der AFD und andere Aktivisten aus dem extrem rechten Spektrum bemühen sich seit Jahren darum, an neue Protestformen anzudocken.
Offen zu erkennen gibt man sich dabei zunächst selten. Bei den Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen und gegen das Impfen waren AFD-Vertreter und weitere Aktivisten aus dem rechten Spektrum, ebenso bei den Putin-freundlichen und antiwestlichen „Friedensdemonstrationen“.
Auch an den Bauernprotesten Anfang 2024 dockte das rechte Spektrum an – obschon sich der Bauernverband davon distanzierte.
Höcke wurde in diesem Jahr in erster Instanz zwei Mal verurteilt wegen der Verwendung der verbotenen SA-Parole „Alles für Deutschland“. Anfang Juli fand eine Wahlkampfkundgebung im sächsischen Freiberg statt. Höcke trat dort nicht auf. Dennoch skandierten AFD-Anhänger vor der Bühne diese SA-Parole.
Eine AFD-Politikerin sagte, sie habe nur „Alice für Deutschland“ gehört. Das war eine Anspielung auf Parteichefin Alice Weidel. Das aktuelle Wahlprogramm von Höckes Landesverband trägt den Titel „Alles für Thüringen!“
Längst „spielen“ die Partei und deren Umfeld also mit der verbotenen SA-Kampflosung. In Wesseling (Rhein-Erft-Kreis) trug Anfang August bei einer Kundgebung aus dem rechten Spektrum ein Redner ein T-Shirt mit der Aufschrift „Für Deutschland alles!!!“
Der AFD-Kreisverband Aachen veröffentlichte vor Wochen eine Kopie des Videos „Alles für Stolzland“ auf seinem Tiktok-Kanal. Zu hören war „L’Amour toujours“, Reden und Videoaufnahmen von AFD-Politikern und Rechtsextremisten waren von einem Musiker gemischt und bearbeitet worden.
Die AFD Aachen schrieb dazu: „Döp Dö Dö Döp. Alles für Aachen[…]“
Parallel zu den Europawahlen ist das Buch „Machtübernahme“ von Arne Semsrott erschienen. Die Wahlerfolge der AFD dürften seine Aktualität noch verstärken. Es beginnt mit einem dystopischen Intro, in dem Fiktion und Realität verschwimmen. Die AFD hat noch nicht wirklich die Macht übernommen, aber sie ist an Regierungen beteiligt, stellt Minister und beeinflusst so Verwaltung, Behörden, Medien und Zivilgesellschaft. In weiteren Kapiteln konkretisiert Semsrott, wie weit die AFD real bereits gekommen ist und wo sie bereits direkt oder indirekt Einfluss nehmen oder demokratische, zivilgesellschaftliche Strukturen ausforschen, bedrängen und bekämpfen kann. Der Autor ist zivilgesellschaftlicher Aktivist und maßgeblich an der Webseite fragdenstaat.de beteiligt. Darüber hinaus ist er ein exzellenter Kenner des Rechtsstaates sowie des Politikbetriebs und kennt die Abläufe, Tücken und Schlupflöcher, die die AFD nutzen kann. Semsrott formuliert aber auch, wie Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft Widerstand oder zivilen Ungehorsam leisten können. In seinem Plädoyer für den Widerstand gibt er wichtige Hinweise zur Stärkung der Demokratie und zur Gefahrenabwehr. Sein Appell für eine lebenswerte, liberale, weltoffene und demokratische Gesellschaft als Schutz vor rechten Kräften dürfte manchem Konservativen allerdings zuweilen zu weit gehen. (mik)
Arne Semsrott: Machtübernahme. Was passiert, wenn Rechtsextremisten regieren. Eine Anleitung zum Widerstand,
240 S., Verlagsgruppe Droemer Knaur, München 2024, Preis: 22,– Euro