Der Wind pfeift kühl über den Platz neben der Holtumer Kapelle. Über den Häuptern der Gottesdienstbesucher ziehen sich die Wolken grau zusammen. „Die Asterix-Fans unter uns wissen, die Bewohner des kleinen gallischen Dorfes hatten nur vor einer Sache Angst“, sagt Bischof Helmut Dieser. „Nämlich, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt.“
In der Gegenwart wissen die Menschen, dass das nicht passieren wird. Aber angstfrei leben sie nicht. „Können wir die Welt noch retten?“, ist eine von vielen Fragen, die Dieser in seiner Predigt während des Hochamts unter freiem Himmel stellt. „Wir stellen die Welt auf den Kopf und der Himmel stürzt ein, weil das Klima menschengemacht lebensbedrohlicher wird“, sagt Dieser zur Weltlage. „Die Welt steht auf dem Kopf und es gibt keinen Himmel mehr, weil die Menschen es nicht schaffen, ohne Gewalt zusammenzuleben.“
Globale Kriege und Krisen wirken sich auch auf die einzelnen Menschen aus. Bei der Verehrung der schwarzen Madonna in Holtum finden die Pilger Ruhe und schöpfen Kraft. Sie stärken die Seele, das Herz und den Körper. Aber Maria wird bei ihrer Aufgabe nicht allein gelassen. Nur wenige Schritte von der Holtumer Kapelle entfernt kümmern sich Brigitte Wimmers und ihr Team um die Stärkung der Pilger. Morgens um 5 Uhr starten die ersten der zehn ehrenamtlichen Helferinnen im Pilgercafé.
Dann werden für das Frühstück nach der Frühmesse die Tische liebevoll eingedeckt, Brötchen geschmiert und Kaffee gekocht. Zur Stärkung gibt es persönliche Geschichten der Pilgerinnen und Pilger dazu. „Vor einigen Tagen waren zwei Damen aus Aachen hier, die beide hier geheiratet hatten“, berichtet Wimmers. „Sie sind mit dem Zug nach Erkelenz gefahren und von dort mit dem Bus hierhin.“ Holtum liegt bei Wegberg, die Busfahrt dauert vom Erkelenzer Bahnhof über das Land etwa 20 Minuten.
Für viele Pilger gehört die Holtumer Oktav schon ihr ganzes Leben dazu. Sie ist ein wichtiger Termin im Jahr. „Von Kindheit an komme ich hierher“, sagt Anneliese Maßen. Die 79-Jährige kommt aus Geneiken. Früher seien sie immer zu Fuß über die Feldwege aus dem etwa vier Kilometer entfernten Dorf gekommen. „Wir sind mit unseren Eltern durch den Wald gegangen“, berichtet Maßen. Auch ihr Mann Wilhelm erinnert sich noch gut an dieses Kindheitserlebnis. „Auf dem Weg hat man den Rosenkranz gebetet“, sagt der 87-Jährige.
Viele Jahre haben die Eheleute die Tradition aufrecht erhalten. „Man hat es so gelernt, man hält es in Ehren“, sagt Wilhelm Maßen. Nur in den letzten Jahren ging es gesundheitlich nicht immer so, wie sich das Ehepaar das gewünscht hätte. „Aber heute ging es, das muss man dann ausnutzen“, sagt Anneliese Maßen. Vieles ist jetzt von der Tagesform abhängig.
Das Leitwort „Mit Maria – Pilger der Hoffnung“ der Holtumer Oktav wird hier an den mit Stroh-Igeln dekorierten Tischen praktisch umgesetzt. „Man hat hier so schöne Kontakte mit den Menschen“, sagt Karin Hommen. Zusammen mit Maria Thönnessen und Waltraud Ferves richtet sie gerade das Buffet mit Schnitzel, Kartoffelsalat, Frikadellen und belegten Brötchen her. Nach dem Hochamt und der Prozession können sich die Pilger hier noch mal aufwärmen.
Viele Menschen arbeiten ehrenamtlich mit, um den Pilgern auch neben den Gottesdiensten eine gute Zeit zu bereiten. Während eines Gesprächs lässt Brigitte Wimmers den Blick in eine Ecke des Raums schweifen. „Ah, die Prozession startet, dann kommen die Gäste gleich“, sagt sie. Es sieht so aus, als könne sie die Zukunft vorhersagen. Dass sie aus diesem Winkel durch ein kleines Fenster auf den Eingang zum Gottesdienst-Platz schauen kann, sieht ihr Gegenüber nicht.
Die Oktav in Holtum hat neben der geistlichen auch eine starke persönliche Komponente für die Pilger. Denn für viele ist sie ein fester Termin, auf den sie sich das ganze Jahr freuen. Ein Grund sind die vielen persönlichen Begegnungen mit Menschen, die ebenfalls jedes Jahr hierher kommen, und die man hier trifft. Das hat die Oktav in Holtum mit der in Neuenhoven gemein.
„Früher hat hier immer auch ein Jahrmarkt stattgefunden“, sagt Susi Jungbluth. Gemeinsam mit Gabi Netzer, Marlies Stengl, Elke Postels und Maria Schiffer versorgt sie die Pilgergruppen im Jugendheim direkt neben der Kirche St. Georg. Eine Woche lang erwarten sie jeden Tag etwa 50 Pilgerinnen und Pilger – die eine Hälfte morgens zum Frühstück, die andere zum Abendessen nach dem Gottesdienst.
„Wir freuen uns jedes Jahr darauf“, sagt Gabi Netzer. Auch wenn für die Frauen die Oktav-Woche eine Zeit voller Arbeit ist, die schon sehr früh am Tag beginnt. Die erste Messe ist um 7 Uhr, die letzte um 19 Uhr. Für die Frauen beginnt dann der Tag schon früh um sechs und endet oft erst gegen 22.30 Uhr. Jungbluth und Netzer legen ihr Engagement rund um ihre beruflichen Verpflichtungen. Vor 15 Jahren hat das Team das Pilgercafé übernommen. Damals ist die Dorfwirtin bei einem Unfall ums Leben gekommen. Eine Wirtschaft gab es im Dorf nicht mehr, also musste eine andere Lösung her; das Frauen-Quintett übernahm.
Während in der Kirche Gottesdienst gefeiert wird, bereiten Marlies Stengl und Elke Postels die Teller für das Abendessen vor. Auf jeden Teller kommt ein Cornichon, eine halbe Gurkenscheibe und zwei Schnitzen roter und gelber Paprika als Dekoration. Später wird noch eine Portion Kartoffelsalat und eine Bockwurst den Teller füllen. Die Würste ziehen schon im warmen Wasser, der Kartoffelsalat steht noch in der Kühlung.
„Früher haben wir den auch selbst gemacht“, sagt Stengl. Aber das haben die Frauen aufgegeben. Jeden Tag das Essen für 30 Personen zu machen, war irgendwann nicht mehr zu leisten. „Die Schnibbelei hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen“, sagt Jungbluth. Heute kaufen sie den Kartoffelsalat fertig und peppen ihn mit Eiern und frischer Gurke auf.
„Wo ist Tante Christa denn?“, fragt Netzer in eine Gruppe Frauen, die gerade an einem der eingedeckten Tische Platz genommen hat. Die Nachmittagsmesse der kfd-Frauen aus Glehn ist vorbei. Gerade hat die Gruppe den Saal im Jugendheim betreten. Für Jungbluth und Netzer beginnt nun der Getränkeservice, in der Küche richten Stengl und Postels die Teller an.
Jeder kennt hier jeden. Glehn ist der übernächste Ort, knapp sieben Kilometer entfernt. Der Ort gehört zum Erzbistum Köln. Für Elisabeth Brüggen ist die Pilgerfahrt zu den 14 Nothelferinnen und Nothelfern, die in Neuenhoven verehrt werden, auch eine Fahrt in ihre Kindheit. „Ich bin aus dem Nachbarort Schlich“, sagt sie. „Ich bin hier in dieser Kirche getauft worden, zur Kommunion gegangen, bin hier zur Schule gegangen und habe hier geheiratet“, sagt sie. Ihre Hochzeit am 6. Juli sei vor 57 Jahren genau auf den Tag gefallen, an dem die Oktav 1968 damals begonnen habe.
Hier, an der Grenze zwischen dem Bistum Aachen und dem Erzbistum Köln, haben solche „Grenzerfahrungen“ Tradition. „Bei meinen Eltern sitze ich im Erzbistum Köln am Kaffeetisch“, sagt Netzer. Viele Ältere können sich auch noch an den großen Jahrmarkt erinnern, den es bis Anfang der 1960er Jahre zur Oktvav-Zeit gab. Dort konnte man allerlei Nützliches für Haus und Hof erstehen wie Bürsten oder Eimer. „Das war damals ein richtiger Heiratsmarkt“, sagt Jungbluth. Es habe einen Tanzsaal gegeben, wo sich viele Paare kennengelernt haben. Daran kann sich auch Anneliese Schoenen noch gut erinnern. Die 81-Jährige pilgert seit 1950 nach Neuenhoven. Damals war sie sechs Jahre alt und ging in die erste Klasse. Schoenen stammt aus Schelsen, einem Stadtteil von Mönchengladbach. „Als Schulklasse sind wir hier zur Oktav gewandert.“
Im Schnitt kommen in Neuenhoven jeden Tag 50 „Pilger der Hoffnung“ in das Café, im Holtum sind es etwa 100 pro Tag – und jeder bringt eine Geschichte mit.
Im kommenden Jahr findet die Oktav in Holtum vom 28. Juni bis 5. Juli und die Neuenhovener Oktav „Mariä Heimsuchung“ vom 4. bis 12. Juli statt.