Fassungslos lausche ich der Anruferin. „Alle Besuche sind bis auf Weiteres verboten“, tönt es aus dem Telefonhörer. Die Gedanken wirbeln durch meinen Kopf. Wann werde ich meinen Sohn wieder in den Arm nehmen können? Und dann trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag: im schlimmsten Falle gar nicht mehr!
Felix lebt seit einigen Jahren im Aachener Vinzenz-Heim. Aufgrund einer ausgeprägten, nicht behandelbaren Epilepsie im Säuglingsalter leidet er unter „schwerster Intelligenzminderung“, wie es im Ärztedeutsch heißt. Übersetzt bedeutet das: Der 19-Jährige ist in seiner geistigen und körperlichen Entwicklung auf dem Stand eines Kleinkindes von weniger als drei Jahren. Das Vinzenz-Heim arbeitet auf der Grundlage eines christlichen Leitbildes – als Familie dürfen wir Felix selbstverständlich jederzeit besuchen, umgekehrt darf er nach Hause kommen, wann er oder wir es möchten.
Das änderte sich mit der zunehmenden Anzahl von Corona-Infektionen in der Region. Nachdem die Werkstätten für Menschen mit Behinderung geschlossen wurden, entschied sich die Heimleitung zu weitergehenden Maßnahmen, um Bewohner und Mitarbeiter zu schützen. In einem Telefonat mit der Leiterin der Abteilung Kinder/Jugendliche Susanne Höller erfuhren wir, dass Felix ab sofort nicht mehr nach Hause kommen dürfe.
Natürlich hätten wir Felix zu uns holen können, dann hätte er aber erst wieder nach Ende der Corona-Krise zurück ins Vinzenz-Heim gedurft. Wie sollte das gehen? So entschieden wir uns dafür, Felix in der Obhut der für ihre Qualitätsstandards ausgezeichneten Einrichtung zu lassen. Ich tröstete mich damit, dass ich Felix ja am Wochenende sehen würde. Ein und dasselbe Mitglied der Familie könne seinen Angehörigen für eine Stunde in dessen Zimmer besuchen, lautete die neue Regelung. Im Gespräch mit Susanne Höller hatten wir einen Termin für den kommenden Samstag ausgemacht. Es war schnell klar, dass aus unserer Familie ich die Person sein sollte, die Felix nun regelmäßig besucht – für meinen Mann und meine Tochter war das eine bittere Pille zu schlucken.
Da Felix kein Sprachvermögen besitzt, kann man mit ihm nicht einmal telefonieren. Aber wir trösteten uns damit, dass in dieser Krisensituation nur diszipliniertes Handeln weiterhelfen kann. Um Felix machte ich mir allerdings mehr Gedanken als um den Rest der Familie. Die Schließung der Werkstatt bedeutet für ihn auch die ersatzlose Streichung seiner Therapien: Krankengymnastik, Logo- und Ergotherapie finden nun nicht mehr statt. Jetzt durfte er das Gelände des Vinzenz-Heims nicht mehr verlassen. Also musste ich auch die Termine seiner Reittherapie fürs Erste absagen. Außerdem liebt Felix es, zu Hause auf seinem großen Trampolin zu hüpfen. Diese Möglichkeit zum Toben ist ihm jetzt auch genommen.
Und dann kam mit dem von der Bundesregierung angeordneten Kontaktverbot der oben erwähnte Anruf. Jetzt weiß ich nicht einmal mehr, wann wir Felix wiedersehen können. Unser Kontakt ist bis auf Weiteres gleich null. Welche Konsequenzen wird die Zeit ohne Therapien und ohne familiäre Tuchfühlung für ihn haben? Hat er etwa Heimweh? Wird er mich wiedererkennen? Mit Felix verbunden fühle ich mich abends, wenn er genau wie ich die Glocken läuten hört. Dazu lese ich das Lied Nr. 813 im Gotteslob: „…bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand.“