Klagen und mahnen

Wie Gemeinden mit der Nennung mutmaßlicher Täter umgehen, Beispiele aus der Region

Neben der Kirche St. Martinus lädt eine Klagemauer zur Auseinandersetzung ein und dazu,  Gedanken, Klagen und Bitten zu hinterlassen. (c) Andrea Thomas
Neben der Kirche St. Martinus lädt eine Klagemauer zur Auseinandersetzung ein und dazu, Gedanken, Klagen und Bitten zu hinterlassen.
Datum:
29. Nov. 2023
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 48/2023 | Andrea Thomas

Gerüchte und Vermutungen gab es mancherorts schon länger. Mit der Veröffentlichung der Namensliste des Bistums wurden sie zur Gewissheit: ein Pfarrer, der über viele Jahre hinweg in der Gemeinde tätig war, gehört zu den mutmaßlichen Tätern. So auch in einer Reihe Gemeinden in Aachen und Aachen-Land. Wie gehen Gemeinden damit um?

Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Namen ist der von Josef Kicken vom Gedenkstein an der Richtericher Kirche verschwunden. (c) Andrea Thomas
Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Namen ist der von Josef Kicken vom Gedenkstein an der Richtericher Kirche verschwunden.

Auch da, wo es längst Spekulationen gab, Leitung und Gemeindemitglieder schon fast mit einer Veröffentlichung rechneten, saß der Schock zunächst tief, sind die Betroffenheit, das Entsetzen und auch die Ungläubigkeit groß. Besonders in Fällen, die noch keine 60 Jahre oder länger zurückliegen, sondern aus den 1970er und 80er Jahren stammen. Da, wo Menschen vor Ort mit dem Namen ein Gesicht verbinden und Erinnerungen an den Pfarrer, der sie getraut, ihr Kind getauft hat, bei dem sie selbst oder ihre Kinder zur Erstkommunion oder Firmung gegangen sind, dessen Predigten sie regelmäßig im Sonntagsgottesdienst gehört haben. Hätte ich dem das zugetraut? Gab es – im Nachhinein betrachtet – irgendwelche Anzeichen?

Kommt man dieser Tage mit Menschen in den betroffenen Gemeinden dazu ins Gespräch, dann berichten viele von einem „komischen Gefühl“, das nicht so recht greifbar war, von einem Pfarrer, der sich sehr für die Kinder- und Jugendarbeit eingesetzt und die Nähe junger Menschen gesucht hat. Manchmal auf eine etwas befremdliche Art, aber nicht so, dass sie dahinter irgendeine Form von Missbrauch vermutet hätten. „Es waren andere Zeiten. Man war noch nicht so sensibilisiert wie heute“, hört man immer wieder. Und dass der Gemeindepfarrer vor 40, 50 Jahren noch eine andere Stellung gehabt habe.

Worte für etwas schwer Fassbares

Anstelle der Gedenktafel für Norbert Spicher hängt in der Kämpchener Kirche nun eine Mahntafel (Text siehe oben) für die Opfer mit dem Aufruf, sich zu melden. (c) Franz-Josef Wolf
Anstelle der Gedenktafel für Norbert Spicher hängt in der Kämpchener Kirche nun eine Mahntafel (Text siehe oben) für die Opfer mit dem Aufruf, sich zu melden.

Reaktionen, die keine Entschuldigung sein sollen und wollen, sondern der Versuch sind, die Fassungslosigkeit und das Entsetzen angesichts der Vorwürfe, die schwarz auf weiß in den Veröffentlichungen des Bistums zu den Namen stehen, irgendwie zu verarbeiten. Eine andere Reaktion ist Ungläubigkeit bis hin zu Verärgerung. Da, wo jemand die Vorwürfe nicht mit dem Pfarrer, den er oder sie gekannt und geschätzt hat, in Verbindung bringen kann, nicht bemerkt hat, was auf solche Taten schließen lässt oder einen Namen durch die Veröffentlichung in den Schmutz gezogen fühlt. Die eine wie die andere Gefühlslage braucht Zeit zur Verarbeitung.

Auch für die aktuellen Leitungsteams und Gremien ist das keine leichte Situation. Die meisten haben auf ihren Internetseiten oder in den Pfarrbriefen Stellung bezogen zu dem, was sich so schwer in Worte fassen lässt: das Entsetzen und die Betroffenheit, die Verurteilung der Täter und das Mitfühlen mit den Opfern, die Unterstützung für das Bistum und seinen Schritt, mit der Namensnennung in die Öffentlichkeit zu gehen, und nicht zuletzt der Aufruf und das Angebot, sich zu melden, wenn man von Taten weiß oder selbst betroffen ist.

Sichtbare Zeichen gesetzt

Anstelle der Gedenktafel für Norbert Spicher hängt in der Kämpchener Kirche nun eine Mahntafel (Text siehe oben) für die Opfer mit dem Aufruf, sich zu melden. (c) Franz-Josef Wolf
Anstelle der Gedenktafel für Norbert Spicher hängt in der Kämpchener Kirche nun eine Mahntafel (Text siehe oben) für die Opfer mit dem Aufruf, sich zu melden.

In St. Martinus Aachen-Richterich und St. Mariä Heimsuchung Herzogenrath-Kohlscheid, wo es um die langjährigen Gemeindepfarrer geht, ist das den Verantwortlichen zu wenig. Sie wollen ein sichtbares Zeichen setzen. In Richterich, wo der als mutmaßlicher Täter benannte Pfarrer Josef Kicken von 1962 bis 1994 tätig war, steht neben der Kirche seit dem vergangenen Wochenende eine (An)Klagemauer. Die Idee dazu hatte der Pfarreirat. Als die Gerüchte zugenommen hätten, dass er einer derer sein könnte, die auf der Liste des Bistums stehen, sei ihnen klar gewesen, dass sie vorbereitet sein müssten, berichtet Hans Brunner, einer der Sprecher des Gremiums. Eine Andacht hätte sich verkehrt angefühlt. So sei – unterstützt vom Leitungsteam der GdG grenzenlos, zu der St. Martinus gehört – die Idee entstanden, ein sichtbares Zeichen zu setzen der Solidarität mit Betroffenen und einen Ort zur Klage und Anklage zu schaffen.

In den kommenden Wochen können Menschen ihre Klagen, Bitten und Gedanken auf Zetteln in die Öffnungen der halbrunden Mauer vor der Seitenwand der Kirche stecken. Die Zettel werden nicht gelesen oder veröffentlicht, sondern sollen zeichenhaft im Osterfeuer des kommenden Jahres verbrannt und so vor Gott getragen werden. Wer möchte, kann hier in stiller Solidarität den Schmerz, die Wut und das Leid der Opfer teilen oder eine Kerze als Licht der Hoffnung und des Gedenkens entzünden. Dazu haben die Initiatoren ein „Gebet an der (An)Klagemauer“ ausgelegt.

Ein weiteres, sichtbares Zeichen hat auch jemand anders gesetzt. In der Nacht nach der Veröffentlichung der Namen hat ein Unbekannter den Namen von Pfarrer Kicken auf einem Findling nahe der Kirche entfernt.

In der Kämpchener Kirche St. Mariä Heimsuchung erinnerte bis vor Kurzem eine Marmortafel an den langjährigen Gemeindepfarrer Norbert Spicher, der hier sowie in St. Matthias Berensberg von 1960 bis 1981 tätig war. Auch sein Name steht als mutmaßlicher Täter auf der vom Bistum im Oktober veröffentlichten Liste. Erste Reaktionen waren „rausreißen“ und „zuhängen“, doch das schien dem Pastoralteam in „Christus unser Friede“, wozu St. Mariä Heimsuchung zählt, keine gute Lösung zu sein. Das sei die nächste Vertuschung gewesen und würde der Sache nicht gerecht. Daraus entstand die Idee, die Tafel zu aktualisieren und umzuwidmen in eine Mahntafel.

Eine Idee, für die es auch Zuspruch aus der Gemeinde gab, in der sich viele damit identifizieren können. Die neue Tafel verbindet den Hinweis auf die ursprüngliche (darunter auch immer noch sichtbare) Tafel mit dem Gedenken an die Opfer sexuellen Missbrauchs in der Kirche und dem aktuellen Umgang des Bistums damit sowie den Aufruf sich zu melden. Damit will das Team ins Handeln kommen im Heute und Hier.