Kisten erzählen Geschichten

Mit dem Kunstprojekt „Entdecke mich“ geben Menschen mit Behinderung Einblicke in ihre Lebenswelt

Gabi Laumen (l.) unterstützt Susanna Marincovic (vorne) beim Anbringen der Telefone in ihrer Kiste. (c) Andrea Thomas
Gabi Laumen (l.) unterstützt Susanna Marincovic (vorne) beim Anbringen der Telefone in ihrer Kiste.
Datum:
15. Juni 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 24/2021 | Andrea Thomas

Im Kunstprojekt „Entdecke mich“, ursprünglich zur Heiligtumsfahrt geplant, geben Menschen mit Behinderung persönliche Einblicke in ihre Leben. Ihre Plattform: eine 30 x 30 x 17 Zentimeter große Holzkiste, die sie frei gestalten. 200 Kunstwerke werden es am Ende bistumsweit sein, 60 kommen aus der Städteregion, drei davon entstehen derzeit in einer Außenwohngruppe des Vinzenz-Heims in Aachen.

Der Tisch im gemeinsamen Wohn-Essraum verschwindet unter Zeitungen, Klebstoffflaschen, Bildern und kleinen Dekorationsartikeln. Hier werkeln Susanne Marincovic, Frank Malinke, Therese Hickl und Marcel Angenendt an ihren Kisten. Farbig gestrichen sind die schon, und alle vier haben auch bereits eine konkrete Idee, was ins Innere ihrer Kiste kommt und welche Geschichten aus ihrem Leben sie damit anderen erzählen wollen.

Denn, das ist die Idee hinter der Aktion, Menschen mit Behinderungen und ihre (Lebens-)Geschichten in den Mittelpunkt zu holen, dem Betrachter einen Blick in ihre Welt zu gewähren. „Menschen mit Behinderung werden immer noch übersehen. Zu oft bewegen sie sich am Rande“, sagt Gabi Laumen, Seelsorgerin für Menschen mit Behinderung in der Städteregion, die die Kunstaktion gemeinsam mit ihren Kolleginnen organisiert und an diesem Nachmittag zum Mitbasteln in der Wohngruppe vorbeischaut. 


Die Wohn-Gruppe ist zur Insel geworden

In den vergangenen Jahren habe sich vieles im Leben von Menschen mit Behinderung verändert. So haben die UN-Behindertenrechtskonvention und das Bundesteilhabegesetz festgeschrieben, dass jeder Mensch, egal, ob mit oder ohne Behinderung, ganz natürlich zur Gesellschaft dazugehört. Klingt gut, doch Inklusion tatsächlich im Alltag umzusetzen, ist und bleibt eine Herausforderung. Die größte Veränderung bedeutete in den vergangenen Monaten jedoch – wie für so viele – die Corona-Pandemie. Abstand halten und Kontakte reduzieren prägen den Alltag. Besuche in den Wohneinrichtungen sind immer noch schwierig und begrenzt. Die Wohngruppe ist, trotz ihrer zentralen Lage am Rande des Pontviertels, zur Insel geworden.

Allen fehlen die Kontakte zu Familie, Freunden und Kollegen, was sich auch in den Geschichten wiederfindet, die die Kisten erzählen. Susanna Marincovic vermisst ihre Zwillingsschwester. Dass sie sich eine Zeitlang überhaupt nicht sehen konnten und es auch jetzt nur sehr eingeschränkt möglich ist, ist für die junge Frau im Rollstuhl das Schlimmste. „Wir telefonieren, jeden Tag. Das hilft“, erzählt sie. Die Telefonleitung ist zu ihrer Rettungsleine geworden, weshalb sie das auch in ihrer Kiste zeigen will. Zu sehen sind zwei Frauen, die von Fenster zu Fenster über ein Dosen-Telefon, wie viele es vielleicht noch aus Kindertagen kennen, miteinander sprechen. Davor befestigt Susanna gerade zwei kleine Telefonhörer mit Schnur dazwischen. Sie freut sich schon, wenn ihr Kunstwerk fertig ist, es ihrer Schwester zeigen zu können.

Auch die Kiste von Frank Malinke nimmt so langsam Gestalt an. Eigentlich wohnt er gar nicht mehr in der Gruppe, sondern hat eine eigene kleine Wohnung im betreuten Wohnen des Vinzenz-Heims in Herzogenrath-Kohlscheid. Aber er habe lange in der Gruppe gelebt und habe immer noch einen guten Kontakt zu allen, erzählt er. „Ganz besonders zu Therese“, sagt Heinrich Lentfort, der Betreuer der Gruppe, der ihm gerade beim Kleben hilft, mit einem Schmunzeln. Die beiden sind verlobt, weshalb die Kiste auch eine gemeinsame wird. Im Hintergrund ist Franks neues Zuhause zu sehen, denn das sei, was sich für ihn in den vergangenen Monaten am meisten verändert habe, wie er sagt. „Hingucker“ soll der vorgebaute Balkon werden, mit Blumen, Sonnenschirm, Stühlen und Kaffeetassen in Miniatur. Er und Therese träumen davon, dort gemütlich zu zweit zu sitzen.

Wenn man in die Kiste von Marcel Angenendt schaut, fallen sofort die Kreuze ins Auge. „Mein Vater ist vor Kurzem gestorben“, sagt er. Ein Ereignis, das den jungen Mann immer noch sichtlich bewegt und das er in seiner Kiste verarbeitet. Damit die nicht nur eine traurige Geschichte erzählt, hat Gabi Laumen ihm bei einem Mobilé geholfen, das die Gegensätze des Lebens in Bildern zeigt: alt – jung, Tag – Nacht, wachsen – vergehen. Die Kunstaktion findet Marcel klasse, er werde gerne kreativ. „Bei der letzten Heiligtumsfahrt hatten wir auch eine Kunstaktion, mit Schuhen. Die war auch gut. Da haben wir alle unsere Schuhe aufeinander gesetzt“, erinnert er sich.

Besonders wichtig war damals auch die Ausstellung aller Kunstwerke in St. Jakob. „Eine solch große Ausstellung ist auch wieder für 2023 geplant“, berichtet Gabi Laumen. Zuvor möchte sie, so Corona es zulässt, noch dieses Jahr alle 60 Kisten, die in 13 Gruppen in der Städteregion entstehen, in Aachen ausstellen. Es sei so wichtig für die Menschen mit Behinderung, sich „entdecken zu lassen“. 

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