Kirchengebäude stellen ein einzigartiges baukulturelles Erbe dar und sind wichtige Orte der Gemeinschaft, mit denen viele Erinnerungen und Emotionen verbunden sind. Auf der anderen Seite verlieren sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche in Deutschland zunehmend Mitglieder, die Zahl der Gottesdienstbesucher ist rückläufig, es fehlen personelle und finanzielle Ressourcen. Viele Gebäude sind von Leerstand und Abriss bedroht, wenn keine Umnutzung stattfindet. Die Ausstellung „Kirchen als Vierte Orte – Perspektiven des Wandels“ des Museums der Baukultur zeigt 27 Beispiele umgenutzter Kirchen in Nordrhein-Westfalen (NRW). Die KirchenZeitung hat sich mit Kurator Felix Hemmers über den Prozess des Wandels, Stolpersteine und Chancen unterhalten.
Über wie viele Kirchengebäude sprechen wir, deren Weiternutzung im bisherigen Sinne ungewiss ist?
Hemmers: Zwischen 30 bis 50 Prozent der Kirchengebäude in Deutschland werden vor dem Hintergrund des Wandels der Kirchen und ihrer Gemeinden in den kommenden Jahrzehnten leer stehen. Von den rund 6000 Kirchen allein in NRW fallen also bis zu 3000 aus der Nutzung. Wir präsentieren 27 Beispiele umgenutzter Kirchen – stellen aber auch Menschen in den Mittelpunkt, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven heraus mit der Transformation von Kirchengebäuden beschäftigen.
Welche Rolle spielen Kirchen im öffentlichen Raum für die Stadt- oder Dorfgemeinschaft?
Hemmers: Der Titel der Ausstellung nimmt auf einen Begriff aus der Stadtentwicklung Bezug. „Dritte Orte“ sind Gemeinschaftsorte, beispielsweise die alte Schule, die alte Dorfkneipe. In der Soziologie werden sie als Orte beschrieben, die einen Ausgleich zu Familie und Beruf bieten. Häufig werden auch Kirchen unter diese „Dritten Orte“ gefasst. Wir gehen in unserem Ansatz darüber noch hinaus und sprechen ganz bewusst von „Vierten Orten“. Kirchengebäude haben eine Gemeinschafts- und Versammlungsfunktion, aber auch noch weitere, einzigartige Funktionen und Eigenschaften. Kirchen sind die emotionalste Gebäudetypologie, die wir haben. Zudem sind es immer Orte der Identifikation, sowohl im ländlichen Raum als auch in den urbanen Gebieten. Auch ermöglichen Kirchengebäude es, zu sich zu kommen und Selbstreflexion zu üben. Damit erzeugen Kirchen etwas Neues, den „Vierten Ort“, der über die Funktion als reiner Treffpunkt hinausgeht. Unsere Gesellschaft benötigt aktuell mehr denn je Orte für sozialen Austausch und gesellschaftliche Identifikation. Kirchengebäude bieten sich aufgrund dieser Besonderheiten dafür besonders an, sie ermöglichen Menschen Raum für Austausch, Spiritualität sowie Einkehr. Zugleich besitzen sie eine einzigartige Atmosphäre und emotionale Qualität.
Ist die Architektur ein Kriterium für den Erhalt von Kirchengebäuden?
Hemmers: Der architektonische Wert der Gebäude spielt eine zentrale Rolle. Gerade die Nachkriegskirchen erfahren zwar oft nicht die größte Akzeptanz in der Bevölkerung. Aber gerade diese Gebäude sind liturgisch und architektonisch sehr spannende Räume, die mit Licht arbeiten, mit hoher Materialqualität, die auch für eine Demokratisierung der Liturgie stehen.
Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg einen Bruch in der Kunst und in der Architektur, wodurch eine neue, sachliche Architektursprache entstanden ist, die dem klassischen Bild einer Kirche mit Kirchturm und dreischiffigem Innenraum natürlich widerspricht. Eine Kirche zu bauen, ist generell die schönste, aber auch eine sehr schwierige Bauaufgabe. Das Emotionale muss räumlich greifbar werden. Genauso spielt die Architektur auch eine wichtige Rolle bei der Transformation der Gebäude. Hier geht es darum, die ursprünglichen Raumqualitäten möglichst zu erhalten und gleichzeitig die neuen Funktionen baulich zu integrieren. Die Bonifatiuskirche in Düren ist dafür auf mehreren Ebenen ein gutes Beispiel. Die im ehemaligen Kirchenraum eingerichtete Kindertagesstätte greift den Charakter als Gemeinschaftsort auf und erzeugt eine Lebendigkeit, die auch in das Quartier hinein ausstrahlt. Es ist durch den schmalen, neu eingesetzten Baukörper architektonisch gut gelungen, den ursprünglichen Raumeindruck zu erhalten. Zugleich gibt es ein kontrastreiches Spiel zwischen Alt und Neu. Generell gilt: Je kleinteiliger das Nutzungskonzept ist, desto schwieriger wird es, den Kirchenraum zu bewahren. Am schwierigsten ist das bei Wohnungen, da beispielsweise neue Zugänge zu den einzelnen Nutzungsebenen benötigt werden. Ein architektonisch trotzdem gelungenes Beispiel ist Maria Königin in Dülmen, wo Wohnungen für Studenten und Senioren entstanden sind.
Welche Kriterien gibt es für eine Nachnutzung ehemaliger Kirchen aus Ihrer Sicht?
Hemmers: Es gibt ein breites Spektrum für gesellschaftliche und soziale Nutzungen, die die Tradition des Ortes aufgreifen. Kirchengebäude sind auch demokratische Orte, an denen Diskussion stattfindet. Auch kulturelle Nutzungen passen häufig sehr gut. Aufgrund der Dimension des Themas wird es jedoch nicht möglich sein, jede nicht mehr liturgisch genutzte Kirche zu sozialen oder kulturellen Zwecken umzunutzen. Daher sind auch neue Konzepte gefragt, und das können durchaus auch kommerzielle Nutzungen sein, auch dafür gibt es bereits spannende Beispiele wie St. Rochus in Jülich, wo sich ein Fahrradgeschäft samt Werkstatt im Kirchraum befindet. Wichtig ist, dem Gebäude und der bisherigen Nutzung mit Respekt zu begegnen. Das schließt nicht aus, architektonisch mit dem Gebäude zu spielen und zu interagieren und auch mehrere Nutzungen
parallel zu denken. Früher war das alltäglich, in den Kirchen ist ganz viel gleichzeitig passiert: Es waren Orte von Märkten, dort wurde zu Gericht gesessen. Erst viel später gab es diese Fokussierung auf eine rein religiöse Funktion.
Erlebt diese „Gleichzeitigkeit der Nutzungen“ eine Renaissance?
Hemmers: Ja. Allein durch die Dimension des Problems. NRW ist im bundesweiten Vergleich schon weit fortgeschritten, auch wenn die Institutionen und Entscheidungsträger diesem Trend zu lange nicht oder kaum begegnet sind. Wie bereits erwähnt: Nicht jede alte Kirche kann erfolgreich ein Kulturzentrum oder ein Kolumbarium werden. Kaum eine Stadt benötigt zehn neue dieser Orte auf einen Schlag. Erste Frage muss immer sein: Was wird im konkreten sozialen Raum benötigt, wie kann die „Kirche“ mit dem Quartier drumherum verknüpft werden? Dabei wird es auch starke Unterschiede zwischen urbanen und ländlichen Regionen geben. Wo eine Kindertagesstätte funktioniert, mag Wohnkultur scheitern. Eine Nutzung muss ja immer auch ökonomisch funktionieren.
Warum nicht abreißen?
Hemmers: Kirchen sind gebaute Zeugnisse unserer Geschichte und unserer Gesellschaft. Sie sind ein Speicher an Emotionen. Kern der Ausstellung sind gerade deswegen die Perspektiven des Wandels – also die Sichtweisen der unterschiedlichen Personen, die mit Kirchentransformationen befasst waren oder sind: Pfarrer, Gremienvertreter, Investoren, Architekten und viele weitere. Der Ausgang vieler Umnutzungsprozesse wird immer auch von dem persönlichen Engagement der beteiligten Personen und deren Konfliktfähigkeit bestimmt. Viele Anläufe endeten im Konflikt. Weil Prozesse nicht richtig moderiert wurden, weil sie falsch strukturiert waren. So entstanden Enttäuschungen. Dem Wandel des Gebäudes geht im Idealfall ein Wandel der Einstellung voran.
Wo kann es haken?
Hemmers: Woran es hakt? Das ist so individuell wie die Kirchengebäude selbst. Es sind ja sehr lange Prozesse, meistens vergehen Jahre bis Jahrzehnte von der Idee bis zur baulichen Fertigstellung. In dieser Zeit gibt es viele Hürden, beispielsweise den Umgang mit den behördlichen Vorgaben oder auch die Partizipation der ehemaligen Gemeinde. Einige Umnutzungsprozesse scheitern daher auch. Wer sich auf den Weg macht, sollte versuchen, das Risiko zu verringern, sich einen externen Moderator suchen und alle Leute früh an einen Tisch holen, eine offene Kommunikation pflegen, denn sonst entstehen Missverständnisse. Die Gründe des Erfolgs und Scheiterns sind sehr individuell, je nach Standort und Gemeindezusammensetzung, je nach Kommunikation und Steuerung.
Was muss geschehen, damit alle an einem Strang ziehen?
Hemmers: Es bedarf auch des Verständnisses in der Zivilgesellschaft, dass hier in den kommenden Jahren viel ansteht. Wir müssen daher eine gesamtgesellschaftliche Haltung entwickeln. Wollen wir behalten und transformieren? Oder was sind die Alternativen? Hier ist auch die Politik gefragt. Kirchen sind keine rein private Angelegenheit, sondern auch Gemeingut der Gesellschaft. Ähnlich wie bei den Industriegebäuden des Ruhrgebiets könnte zum Beispiel eine Art Stiftungsmodell, welches sich zunächst befristet um den Erhalt von Kirchengebäuden kümmert, die notwendige Bedenkzeit ermöglichen, um eine sinnvolle Umnutzung zu gestalten. Aus den Industriebrachen ist heute eine tolle Kulturlandschaft geworden. Und auch die Gemeinden vor Ort sind gut beraten, sich frühzeitig Gedanken zu machen, Hilfe zu holen, den Kontakt zu den Kommunen aufzunehmen. Zusammen können neue Nutzungsideen oder Förderprogramme gefunden werden. Es ist ein Riesenthema, das wir nicht als Problem, sondern als Chance begreifen sollten.
Wie stehen die Städte und Gemeinden diesem Transformationsprozess gegenüber?
Hemmers: Es wäre aus Sicht der Städte und Kommunen sehr sinnvoll, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Manche tun es auch schon, in Bochum wird beispielsweise ein Kataster erstellt, um einen Überblick zu erhalten, welche Kirchenimmobilien im Stadtraum bereits aktuell oder zukünftig leer stehen. Das ist eine Basis, auf der man planen kann. Es besteht die Gefahr, dass mit der Aufgabe vieler Kirchengebäude auch soziale Angebote wegfallen. In der Jugendarbeit, in der Senioren- und Beratungsarbeit. Wenn Städte die Prozesse aktiv mitgestalten, kann es eine große Chance für die Kommunen sein, diese Angebote zu erhalten beziehungsweise in der Transformation mitzudenken. Viele Verwaltungen sind jedoch personell dafür nicht ausgestattet.
Und dann gibt es noch Themen wie Energieeffizienz und Denkmalschutz, die frühzeitig abgestimmt werden müssen. Wobei der Denkmalschutz in vielen Kommunen durchaus offen für neue Konzepte ist. Denken wir kurz andersherum: Angesichts des Klimawandels brauchen wir gerade in Städten Orte, an denen sich Menschen abkühlen können. Kirchengebäude können solche Rückzugsräume sein. Letztlich hängt alles von der Nutzung ab – ich bekomme beispielsweise auch Wohnraum mit hoher Energieeffizienz in einer denkmalgeschützten Kirche hin, wenn bei einer Raum-in-Raum-Lösung nur neue Elemente gedämmt und beheizt werden. Es ist immer nachhaltiger, ein Gebäude nicht abzureißen.
Die Wanderausstellung soll vor Ort auch einen Impuls geben, um ins Gespräch über die mögliche Zukunft der jeweiligen Kirchengebäude zu kommen.
Haben Sie noch ein interessantes Beispiel zur Hand?
Hemmers: In Bochum wurde die ehemalige Friedenskirche zum Stadtteilzentrum „Q1“. Die Struktur im Viertel hat sich geändert, es wohnen nicht mehr viele Christen im Quartier, aber die Kirchengemeinde hat sich dazu entschlossen, sich nicht zurückzuziehen, sondern vor Ort zu bleiben. Aus der Kirche wurde ein soziales Stadtteilzentrum mit gemischten Angeboten an überkonfessionellen Sozialleistungen. Es gibt eine Kita, Integrationskurse, Sportkurse, die ehemalige Kirche ist ein Anlaufpunkt geblieben. Kirche hat auch eine Verantwortung für die weitere Nutzung, es geht auch um eine Symbolwirkung. Eine Kirche ist von außen immer noch eine Kirche – auch wenn eine Kletterhalle drin ist. Es wäre aus meiner Sicht fatal, die Gebäude einfach abzustoßen.
Ist das Thema Umnutzung von Kirchen zu emotional, um es sachlich in den kirchlichen Gremien zu behandeln?
Hemmers: Es ist ein sehr emotionales Thema, besonders natürlich für die Menschen vor Ort, die beispielsweise in der Kirche geheiratet haben. Diese Emotionalität darf nicht ignoriert werden, gleichzeitig darf sie nicht dazu führen, dass neue Nutzungskonzepte grundsätzlich abgelehnt werden.
Seit über zehn Jahren beschäftigt sich Baukultur Nordrhein-Westfalen bereits mit dem Thema. Wir merken, dass der Druck in den vergangenen Jahren auf kirchlicher Seite größer geworden ist, also auch der finanzielle Druck. Wir plädieren aber dafür, die Transformationsprozesse nicht als reine Immobiliengeschäfte zu betrachten, bei denen es nur um Zahlen geht. Die meisten Qualitäten der Räume sind nur schwer ökonomisch messbar, aber auch da gibt es Modelle. Das Thema wird in den nächsten Jahren weiter an Fahrt gewinnen. Wir sind in NRW ein bisschen weiter als in anderen Bundesländern, mittlerweile bekommen wir aber aus ganz Deutschland viele Anfragen.
Die Ausstellung „Kirchen als Vierte Orte – Perspektiven des Wandels“ ist noch bis zum 6. Oktober in der Heilig-Geist-Kirche, Essen-Katernberg, Meybuschhof 9, zu sehen. Die Öffnungszeiten sind mittwochs bis freitags von 15 bis 20 Uhr, samstags und sonntags von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei. Führungen gibt es am Sonntag,
22. September, und Samstag,
28. September, jeweils um 12 Uhr.
Mehr dazu: www.baukultur.nrw