Trotzdem engagieren sich viele Frauen und Männer in den Gemeinden für ihre Kirche – hauptamtlich wie ehrenamtlich. Wie kann das sein? Ein Erklärungsversuch.
Leitungen hängen von der Decke, Wände sind aufgestemmt, in den Zimmern steht kein Mobiliar mehr: Das Kurzzeitpflegehaus des Caritasverbandes der Region Mönchengladbach ist eine einzige große Baustelle. Bevor die Bauarbeiter anrückten, hatten Mitarbeiter des Volksvereins das komplette Inventar ausgeräumt und in ein Lager in der Gemeinde St. Johannes gebracht. Die Möbel werden nun aufgearbeitet. Hier entstehen 16 Kurzzeitpflegeplätze, Wohngemeinschaften für 19 ambulant betreute Senioren und eine Tagespflege für 16 Gäste. Auf dem Bauschild vor der Tür leuchtet das rote Caritas-Logo mit dem weißen Flammenkreuz auf rotem Grund. Es ist der einzige Hinweis darauf, dass in den Aktivitäten des Caritasverbands Kirche steckt. Schaut man auf die Paul-Moor-Schule oder den Kindergarten Am Kuhbaum, deren Träger die Caritas ist, verschwindet in der öffentlichen Wahrnehmung der kirchliche Anteil oft ganz.
Viele Institutionen und Angebote in den Regionen Heinsberg und Mönchengladbach werden von der katholischen Kirche finanziert oder finanziell mit regelmäßigen Zuschüssen unterstützt: der Volksverein, der Langzeitarbeitslose fördert, die Pro-multis-Kindergärten mit rund 44 Einrichtungen in Mönchengladbach, Gangelt und Übach-Palenberg, Schulen, Beratungsstellen, Altenheime, Jugendhäuser und vieles mehr. Nicht immer steht „katholisch“ deutlich im Namen der Einrichtungen, obwohl sie katholisch sind. Sie arbeiten konfessionsübergreifend. In den Kindergärten und Schulen lernen auch Kinder aus muslimischen Familien, die Lebensberatung steht auch jenen offen, die längst aus der Kirche ausgetreten sind, und auch die Wohnungs- losenhilfe fragt nicht nach Konfession und Glaube. Obwohl Kirche auf diese Weise viele Hilfen für jede mögliche Lebenssituation anbietet, hat sie in der öffentlichen Wahrnehmung vielfach einen schlechten Ruf.
Warum ist das so? Einen Teil der Antwort gibt Papst Franziskus selbst: Da geht das Oberhaupt der katholischen Kirche zu Obdachlosen und wäscht ihnen die Füße, und die Welt reibt sich erstaunt die Augen. Dass der Papst ein Verhalten vorlebt, das er von seinen Glaubensbrüdern und -schwestern fordert, ist für viele Katholiken eine neue Erfahrung. Wenn in den sozialen Medien ein Video bejubelt wird, das zeigt, wie sich der Papst um eine von einem Pferd gefallene Polizistin kümmert, ist das ein trauriges Zeichen. Denn zum einen sollte es für einen Christen selbstverständlich sein, sich um verletzte Menschen zu kümmern. Zum anderen zeigen diese Reaktionen, dass das Bild von der Amtskirche einer Baustelle gleicht, auf der noch viel zu tun ist. Auch das große Interesse am Dreigestirn von Heinsberg, zwei katholische Priester und ein evangelischer Pfarrer, zeigt, dass katholische Geistliche in der Öffentlichkeit als lebensfern wahrgenommen werden.
Schaut man dagegen in die Gemeinden, ergibt sich ein anderes Bild. Zwar gibt es auch hier mitunter heftige Kritik am geistlichen Personal. Aber die meisten Priester stehen ihren Gemeinden nicht nur vor, sondern sind Teil von ihr. Nicht nur im Glauben bei Gottesdiensten, Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen. Sondern auch bei irdischen Ereignissen wie Schützenfest, Kulturveranstaltungen oder Ferienfreizeiten. Auf diese Weise bekommen sie mit, was die Menschen in ihrer Gemeinde bewegt. Auf der anderen Seite erleben Frauen, Männer und Kinder den Geistlichen als Menschen wie Du und ich – mit Sorgen, Freuden, Hobby und Abneigungen. Ein Vorbild motiviert andere, selbst etwas zu tun.
Schützen setzen sich ein, wenn irgendwo Hilfe benötigt wird: ob es um die Ausbesserung eines Zaunes geht oder um den Besuch von Kranken. Wer lebt, was er predigt, findet Nachahmer – alle anderen haben ein Glaubwürdigkeitsproblem. Sternsinger oder 72-Stunden-Aktion sind dafür Beispiele: Kinder und Jugendliche engagieren sich für andere Menschen. Sie sammeln Spenden und krempeln zur tatkräftigen Arbeit die Ärmel hoch. Erwachsene unterstützen sie dabei. Wer so Kirche erlebt, hat von ihr ein anderes Bild. Dass so manche Gemeinde die Taufe von Flüchtlingen feiern kann, ist kein Verdienst der Amtskirche. Es ist das Verdienst der Menschen vor Ort, die ihren Glauben in der Hilfe erfahrbar gemacht haben. Auch das ist Kirche.