Kinder müssen mitentscheiden

Krefelder Katholikenrat veröffentlicht Sozialbericht über Kinder und Jugendliche in der Corona-Zeit

Nicht nur über sie reden, sondern mit ihnen. Der Katholikenrat hat Kinder im Sozialbericht zu Wort kommen lassen. (c) www.pixabay.com
Nicht nur über sie reden, sondern mit ihnen. Der Katholikenrat hat Kinder im Sozialbericht zu Wort kommen lassen.
Datum:
8. Sep. 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 36/2021 | Ann-Katrin Roscheck

„Unsere Schule ist wie ein Stück Zuhause. Hier fühlen wir uns geborgen, weil wir mit unseren Sorgen zu unserer Lehrerin gehen können, unsere Freunde mit uns reden und uns trösten“, erzählen die Kinder der Buchenschule, einer Grundschule im Krefelder Brennpunktviertel.

Wir müssen mit Kindern und Jugendlichen gestalten.“ Das sei das Fazit des Sozialberichts 2021, sagt Geschäftsführer Georg Nuño Mayer. (c) Ann-Katrin Roscheck
Wir müssen mit Kindern und Jugendlichen gestalten.“ Das sei das Fazit des Sozialberichts 2021, sagt Geschäftsführer Georg Nuño Mayer.


„Die meisten Entscheidungen wurden ohne uns getroffen, wie zum Beispiel das Maskentragen. Das ist nicht immer einfach zu verstehen“, sagt die Klasse 8 der LVR-Gerd-Jansen-Schule. Oder: „Gerade jetzt, wo viele von uns in einem Alter sind, in dem uns eigentlich mehr Freiheiten zugestanden hätten, wird unser Alltag immer mehr eingeschränkt“, haben Paulina und Antonia aus der Marienschule niedergeschrieben. 
Es ist eine fast 120-seitige Studie, die der Katholikenrat Krefeld veröffentlicht hat und die bisher in ihrem Umfang einzigartig das Befinden von Heranwachsenden während der Corona-Pandemie zeigt. Der „Sozialbericht 2021“ lässt gezielt Heranwachsende zu Wort kommen, versucht aber darüber hinaus, im Dialog mit Experten Herausforderungen und Lösungen für die Zeit mit und nach Corona zu finden. „Im letzten Jahr stellten wir fest, dass in allen Berichten immer nur über Kinder und Jugendliche gesprochen wird“, erklärt Georg Nuño Mayer als Geschäftsführer des Katholikenrats. „Nie wurden sie selbst zu ihrem Befinden befragt. Das wollten wir ändern.“ So entschloss sich der Rat, eine eigene Studie auf den Weg zu bringen. Der klassische Dreischritt des Kardinals Joseph Cardijn „Sehen – urteilen – handeln“ diente als Konzept-Orientation. 

 Sehen

Zuerst galt es, sich einen Überblick zu verschaffen. Dafür fragten die Herausgeber unterschiedliche Schulen an und beschlossen, gleichzeitig Experten sprechen zu lassen. Michael Noack von der Hochschule Niederrhein legt zum Beispiel dar, dass unfreiwillige Einsamkeit verstärkt Kinder und Jugendliche sowie Familien mit mehreren Kindern durch die Pandemie betrifft. Markus Schön als Stadtdirektor Krefelds schildert die unzureichend angegangene soziale Herausforderung im Bildungswesen und stellt einen Zehn-Punkte-Plan auf, um Folgen der Pandemie bei jungen Menschen zu bewältigen. Und das European Youth Forum beschreibt, wie Jugendliche unter der sozialen Isolation, unter Depressionen und Zukunftsängsten leiden. 
„Vor allem haben mich die Berichte der Kinder und Jugendlichen selbst berührt“, erklärt Nuño Mayer, der vor seiner Tätigkeit in Krefeld lange Zeit für die Caritas in Brüssel tätig war. „In der Politik wurde Schule während Corona oft nur als Lernraum diskutiert. Für die Heranwachsenden hat Schule aber eine viel größere Bedeutung: Hier erleben Kinder Gesellschaftsstrukturen. Sie lernen, Freundschaften zu knüpfen, Konflikte zu lösen und als Gemeinschaft zu funktionieren.“

 

 Urteilen

Nicht nur über sie reden, sondern mit ihnen. Der Katholikenrat hat Kinder im Sozialbericht zu Wort kommen lassen. (c) www.pixabay.com
Nicht nur über sie reden, sondern mit ihnen. Der Katholikenrat hat Kinder im Sozialbericht zu Wort kommen lassen.

Der zweite Schwerpunkt der Studie schlägt durch einen ausführlichen Artikel von Ulrike Kostka als Sozialethikerin und Diözesancaritasdirektorin Berlin sozialethische Kriterien vor, um in Zukunft Politik und gesellschaftliches Handeln mit Kindern und Jugendlichen zu gestalten. Kostka ebnet den Weg für den dritten, entscheidenden Teil der Studie.

 Handeln

„Das ,Wir‘ in Krefeld gestalten wir nur mit den Kindern und Jugendlichen“, dieses Resümee zieht der Katholikenrat. Die Studie schließt mit sieben Herauforderungen ab, die der Rat für die aktive Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, aber auch für die Strukturierung in Politik und Gesellschaft formuliert. Die Herausgeber fordern vor allem, die Teilhabe der Heranwachsenden an allen Entscheidungsprozessen zu optimieren. 
„Niemand hat Kinder gefragt, welche Regeln sie sich in der Pandemie wünschen“, transferiert Nuño Mayer die Ansätze in die Praxis. „Vor allem sind es aber doch die Heranwachsenden selbst, die zu ihrem Alltag eine Meinung haben. Dieser müssen wir Gewicht geben.“

Die sieben Herausforderungen möchte der Katholikenrat durch die Veröffentlichung und die Aussendung der Studie nun angehen, aber auch in Zukunft selbst immer wieder den Finger in die Wunde legen. „Wir werden zum Beispiel kontrollieren, ob die in der Studie getroffenen Versprechen aus der Politik auch wirklich eingehalten werden“, erklärt Nuño Mayer. „Gemeinschaft bedeutet gemeinsam – unabhängig des Alters.“ 
Nicht nur Herausforderungen aber stehen am Ende der Studie, sondern auch ein großer Dank wird formuliert, betont der Geschäftsführer: „Die Schulen und Institutionen haben in Corona Großartiges geleistet. Sie schafften mit Innovation und Zugewandtheit Struktur für Kinder und Jugendliche.“

Der vollständige „Sozialbericht 2021 – Kinder und Jugendliche in der Corona-Zeit“
 ist online auf www.region-krefeld.de zu finden.

Interview

Klaus Esser als  Vorsitzender des BVKE. (c) Bethanien-Kinderdorf

Was macht der Bundesverband katholischer Dienste und Einrichtungen der Erziehungshilfe?

Der BVKE ist anerkannter Fachverband für Kinder- und Jugendhilfe unter dem Dach des Caritasverbandes. Wir vertreten die Interessen der in den Einrichtungen betreuten Menschen in Kirche und Gesellschaft. Dabei erleben wir, dass gerade, wenn es gilt, für diese Gruppe Rechte einzufordern, die „schwierigen“ Jugendlichen oft in die Ecke der Störenfriede, der gewaltbereiten Jugend und des bildungsfernen Milieus gedrängt werden. Dabei ist ein großer Teil der Familien durch Merkmale geprägt, die das Leben und die Betreuung von Kindern erheblich erschweren: Armut, Migration, alleinerziehend. 

 

Wie hat die Corona-Pandemie die Aufgaben des BVKE verändert?

Die Folgen der Pandemie sind für diese Menschen gravierend. In Armutshaushalten mit zum Beispiel einer kleinen Etagenwohnung mit drei Zimmern für sechs Personen ohne Garten mussten Spannungen zwangsläufig entstehen. Die Zunahmen von Gewalt gegenüber Kindern wirkt sich in extrem steigenden Hilfeanfragen aus. Homeschooling in Familien, in denen Deutsch nicht die Muttersprache ist, lässt Kinder alleine zurück. Die externen Helfer, die sonst tagsüber eine Anlaufstelle für die Kinder anbieten konnten, wurden durch die Kontaktverbote auf digitale Medien reduziert. Die Familien, die diese Medien nicht anschaffen konnten, blieben aber quasi unerreichbar. Die gesellschaftlichen Gräben, die vorher schon spürbar waren, sind breiter geworden. Es gibt vertiefte Bildungsgräben, es gibt vertieftes Erleben der sozialen Isolation, es gibt ein neues Gefühl, in Armut isoliert und alleine gelassen zu sein.

 

Was erwartet der BVKE von der Politik?

Dass sie Familien mit den Belastungsrisiken mehr auf dem Schirm haben. Wir brauchen: Geld für Armutsbekämpfung, insbesondere für Kinder und Jugendliche; bessere Bildungsförderung für diese Gruppen, um eine zusätzliche Bildungsbegleitung abzusichern; regionale Hilfestellungen für Familien mit Risikofaktoren; pädagogische Unterstützung in Schulen, auch Beratung und Unterstützung für Lehrkräfte und Betreuungspersonal sowie Schulsozialarbeit, die sich mit den Angeboten der Erziehungshilfe vernetzt; einen Blick auf die Überlastungssituation von Jugendämtern, um den Kinderschutz zu verstärken und abzusichern.
 
Das Gespräch führte Ann-Katrin Roscheck