Dass nach einer Vergewaltigung nicht dem Täter, sondern dem Opfer eine Anzeige und Strafe droht, klingt wie ein ziemlich schlechter Scherz. Ist es leider aber nicht. In Katar, dem Gastgeberland der Fußballweltmeisterschaft der Männer, die in diesen Tagen beginnt, ist das juristische Praxis. Missio prangert dies sowie den Mangel an Frauenrechten in dem Golfstaat an.
Zeigt eine Frau im Emirat Katar eine sexuelle Gewalttat an, läuft sie Gefahr, dass gegen sie selbst ermittelt wird und dass ihr eine Anklage und Verurteilung wegen „außerehelichen Geschlechtsverkehrs“ droht. Eine Rechtsprechung, die Frauen doppelt zu Opfern macht – Einheimische, Migrantinnen oder auch Touristinnen, die zum Beispiel in den kommenden Wochen als Fußballfans nach Katar reisen.
Der Fall von Paola Schietekat, einer aus Mexiko stammenden Mitarbeiterin des Organisationskomitees der Fußballweltmeisterschaft, zeigt, wie frauenverachtend die Gesetzeslage ist. Nachdem die 28-Jährige sich nach einer Vergewaltigung hilfesuchend an die Polizei gewandt hatte, wurde sie im Frühjahr dieses Jahres nach der Scharia, dem islamischen Recht, angeklagt, vor der Ehe mit einem Mann Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Ihr Anwalt empfahl der jungen Frau, den Täter zu heiraten, um so einer Auspeitschung und Gefängnisstrafe zu entgehen. Nur dank internationaler Proteste entging sie einer Strafe und konnte in ihre Heimat zurückkehren.
Eine Chance, die nicht jede Frau hat. In Katar arbeiten rund 173000 Frauen aus ärmeren Ländern wie Bangladesch, Nepal und den Philippinen als Haushaltshilfen oder in der Pflege. Diese Arbeitsmigrantinnen sind Gewalt und sexuellen Übergriffen nahezu schutzlos ausgeliefert. Können sie sich doch kaum wehren, wollen sie den für den Unterhalt ihrer Familien daheim so wichtigen Job nicht verlieren. Die philippinische Ordensfrau Schwester Mary John Mananzan OSB ist Projektpartnerin von Missio und setzt sich seit Jahrzehnten für den Schutz dieser Frauen und die Verbesserung ihrer Lebensumstände ein. Unterstützt wird sie von Missio über die Aktion Schutzengel sowie die Kampagne „Frauen schützen in Katar“, die dem Gastgeberland der Weltmeisterschaft für seine Menschenrechtsverletzungen die Rote Karte zeigt.
Der monatliche Mindestlohn für Arbeitsmigrantinnen in Haushalt und Pflege liegt bei 280 Euro; bei Lebenshaltungskosten, die so hoch sind wie in Deutschland. Den größten Teil davon schicken die Frauen in ihre Heimatländer, für die das Geld ein wichtiger Beitrag zum Bruttosozialprodukt ist. Oft werden die Haushaltshilfen für acht Stunden bezahlt, müssen aber bis zu 20 Stunden dafür arbeiten. Zur finanziellen Ausbeutung kommt dann noch die Gefahr der sexuellen Ausbeutung und der frauenverachtenden Gesetzgebung.
Für Schwester Mary John „das irrationalste Gesetz“, von dem sie je gehört habe. „Was ist das für eine Welt, in der das Opfer bestraft wird?“ Dagegen müsse dringend etwas unternommen werden. Auch für die ehemalige Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin, die die Kampagne unterstützt, ist dieses Gesetz untragbar. „Frauen sind in Katar immer noch Menschen zweiter Klasse.“ Die Strafen seien „elend“, könnten bis zu 100 Peitschenhiebe bedeuten. Die WM sei die Möglichkeit, diese und andere Missstände anzusprechen, damit Fortschritte erzielt würden und Katar als geachteter Partner in der Welt anerkannt werden könne.
Mit der Vergabe und der Ausrichtung des sportlich und wirtschaftlichen Großereignisses Fußball-WM ist das Emirat am Golf ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gelangt. Für Katar die Bühne, sich als Partner auf der weltpolitischen Bühne zu zeigen. Doch seit das Land 2010 den Zuschlag für die WM bekommen hat, reißt die Kritik nicht ab, werden Menschenrechtsverletzungen bekannt, die das Turnier verschleiern soll. Über 6000 Menschen haben auf den WM-Baustellen ihr Leben verloren.
Politikwissenschaftler Sebastian Sons hat sich in einer Studie für Missio mit den Themen Menschenrechte, Arbeitsmigration und Außenpolitik beschäftigt. Die Situation sei sehr komplex, Katar nur ein Puzzleteil in der Ausbeutung von Migrantinnen weltweit. Weshalb es nicht ausreiche, allein Katar zu kritisieren. Man müsse den Blick weiten. Er verweist darauf, wie wichtig die Rücküberweisungen der Frauen für die Wirtschaft in ihren Heimatländern sind und wie gering daher das Interesse dort, genauer auf die Bedingungen zu schauen. Auf dem Papier seien in Katar viele Reformen eingeführt worden, doch in der Umsetzung blieben die meisten davon mangelhaft. Die Weltmeisterschaft erzeuge öffentlichen Druck, etwas zu verändern. Dem sich ein Land wie Katar, das stark auf die internationale Gemeinschaft angewiesen sei, anders als beispielsweise China nicht entziehen könne. Sebastian Sons sieht die WM daher auch als Chance, stärker hinzuschauen, wo und wie eine Zusammenarbeit möglich sein kann.
Sie wollten niemandem Vorschriften für den Umgang mit der WM machen oder das Fußballschauen verbieten, erklärt Missio-Präsident Pfarrer Dirk Bingener. Ihnen gehe es darum, zu informieren und auf die Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen, sich für Veränderungen einzusetzen und mit ihrer Kampagne der vermeintlichen Ohnmacht entgegenzutreten, man könne nichts tun. Während der WM verteilt Missio dazu in Kneipen rote Bierdeckel mit Informationen zu seiner Kampagne für mehr Frauenrechte sowie Flyer mit einer Karte an Außenministerin Annalena Baerbock, die sie auffordern, sich für die Beendigung der juristischen Praxis, dass die Opfer einer Vergewaltigung bestraft werden und nicht die Täter, einzusetzen. Missio wolle zudem allen Abgeordneten, die nach Katar reisen, Informationsmaterial zukommen lassen. „Das Thema muss über die WM hinaus wirken“, fordert Bingener.
Das Auswärtige Amt hat auch mit Blick auf den mangelnden Schutz von Frauen vor und bei einer Vergewaltigung eine offizielle Reisewarnung für Katar ausgesprochen. Daran knüpft Missio mit seiner Petition an. Rote Karten mit dem Appell an Außenministerin Annalena Baerbock, sich beim Emir von Katar für die Abschaffung der frauenfeindlichen Rechtsprechung einzusetzen, liegen an vielen Stellen aus. Außerdem können sich Menschen online auf der Seite von Missio Aachen der Petition anschließen. Im November 2023 sollen die Unterschriften übergeben werden. Unter www.missio-hilft.de/katar gibt es außerdem weitere Informationen zur Kampagne „Frauen schützen in Katar“ sowie die Studie von Sebastian Sons.