Jetzt die richtigen Dinge tun

Betroffene stärken, Gremien beteiligen, systemische Ursachen anpacken: Echo auf Aachener Gutachten

(c) Andreas Steindl/Bistum Aachen
Datum:
25. Nov. 2020
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 48/2020 | Thomas Hohenschue

Seit dem 12. November liegt das lange erwartete Gutachten zur sexualisierten Gewalt von Klerikern im Bistum Aachen vor. Es benennt Leitungsversagen im Umgang mit dem Thema, in der Sache und in der Verantwortung. Erwartungsgemäß schlagen die Wellen hoch vor und hinter den Kulissen der Kirche, in Gremiensitzungen, in der Presse, in den sozialen Medien. Ein erster Überblick.

Bundesweit wurde der Mut von Bischof Helmut Dieser und Generalvikar Andreas Frick gewürdigt, das unabhängige Gutachten in geplanter Weise durch die beauftragte Rechtsanwaltskanzlei vorstellen zu lassen. Sowohl in den beiden Pressekonferenzen zum Gutachten als auch im Presseecho insgesamt war allerdings zu spüren, dass ein Teil dieser Wertschätzung der Abgrenzung gegenüber dem Verhalten der Erzdiözese Köln geschuldet war. Diese verweigert die Veröffentlichung eines von derselben Kanzlei angefertigten Gutachtens mit gleichem Untersuchungsgegenstand mit Hinweis auf angebliche Mängel und rechtliche Zweifel.


Verbindlichkeit gefragt

Zum überwiegenden Teil findet das Aachener Exemplar hohe Zustimmung, sowohl in dem, was es feststellt, als auch in dem, was es für die Zukunft daraus schlussfolgert. Wer sich durch das 458 Seiten starke Werk gearbeitet hat, kommt in der Regel nicht umhin, die Arbeit der Gutachter als sauber, solide und richtungsweisend einzuordnen. Der eine oder andere vollzieht die Entscheidung nicht nach, dass nur eine reduzierte Zahl von Fällen herangezogen wurde. Und auch die Tatsache, dass die Gutachter manche Verantwortliche nach Auswertung von Personalakten, Dokumenten und Interviews nicht nennen, wird von einigen kritisch hinterfragt.

Der Diözesanrat der Katholiken im Bistum Aachen würdigt in einer von vielen regionalen Katholikenräten und katholischen Verbänden mitgezeichneten Stellungnahme das Gutachten als „Meilenstein“. Und sagt: „Für uns kommt es jetzt ganz entscheidend darauf an, was aus dem Gutachten entsteht.“ Was heißt das? „Wir erwarten vom Bischof von Aachen einen Zeit- und Maßnahmenplan, der mess- und überprüfbare Ziele zur Umsetzung beinhaltet. Und zwar auf jede der Empfehlungen der Kanzlei hin. Innerhalb von zwei Monaten, also bis Mitte Januar 2021, muss die Diözese schriftlich darlegen, wie sie jede einzelne Empfehlung zu bearbeiten beabsichtigt. Wo die Bistumsverantwortlichen den Gutachtern nicht folgen wollen, sollen sie das benennen.“

Erste Maßnahmen hatten Bischof, Generalvikar und Personalchefin wenige Tage nach Vorstellung des Gutachtens bereits vorgestellt. Erst nach der Pressekonferenz wurden die zuständigen diözesanen Räte informiert. Propst Peter Blättler vom Priesterrat bedauert dieses Vorgehen. Schon beim Start des Bistumsprozesses „Heute bei dir“ mit seinen wichtigen Anliegen sei dieser Fehler begangen worden. Warum binde man die Blickwinkel und Expertise der verschiedenen Beratungsgremien nicht von vornherein ein und trete mit einem gemeinsamen Konzept an die Öffentlichkeit? „Das würde die Chance erhöhen, dass die Maßnahmen von allen mitgetragen werden im Sinne einer synodalen Kirche, von der unser Bischof immer spricht“, unterstreicht Peter Blättler. Und er begrüßt den Ansatz des 
Diözesanrats, nach vorne zu schauen.

Das werde auch der Priesterrat in Kürze tun, kündigt Pfarrer Andreas Mauritz an. Der Sprecher des Priesterrates sagt: „Wir erwarten von Bischof und Generalvikar, dass wir wie die anderen diözesanen Räte an der Entwicklung der Konzepte von Maßnahmen beteiligt werden anhand der Empfehlungen der Kanzlei und darüber hinaus.“ Propst Markus Bruns, ebenfalls aus dem Priesterrat, mahnt eine kon-sequente Bearbeitung der systemischen Ursachen des sexuellen Missbrauchs an. „Hoffentlich geht Bischof Dieser hier ebenso entschieden voran wie bei der Veröffentlichung des Gutachtens.“ Eine enge Verschränkung der Themen des Synodalen Weges mit dem Bistumsprozess „Heute bei dir“ hält Markus Bruns mehr denn je für geboten.

Auch Männer und Frauen, die sich in katholischen Laienorganisationen und Verbänden engagieren, mahnen eine transparente Arbeit mit dem Gutachten an. Der Diözesanrat der Katholiken betont, dass es ihm nicht um Aktionismus gehe, sondern im Gegenteil um klare, überprüfbare Konzepte. Und der auch vom Bischof als zentrales Erfordernis benannte Perspektivwechsel soll dabei die Feder führen. „Leitend sollte in der Tat die Perspektive der Betroffenen sein“, heißt es in der Stellungnahme des Rates. „Aber nicht wir oder das Bistum definieren diese Perspektive, sondern Betroffene selbst. Dafür sind schnellstmöglich die Grundlagen zu schaffen.“


Unabhängige Kommission


Was ist damit gemeint? Vordringlich fordert der Diöze-sanrat die Einrichtung einer Kommission im Sinne einer gemeinsamen Erklärung des Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und der Deutschen Bischofskonferenz vom 22. Juni 2020. Warum? „Die Beurteilung der Maßnahmen um nachhaltigen Opferschutz und Prävention darf nicht mehr in den Händen der Institution selbst liegen“, sagt der Rat und ergänzt: „Deshalb sind derzeit auch vorschnelle öffentliche Selbstbekundungen als Fürsprecher für die Betroffenen unangebracht.“
Unabhängige Anlaufstellen

In diese Richtung zielt auch Kritik, die sich an einer Kampagne der Diözese entzündet, welche aufruft, Fälle sexuellen Missbrauchs durch Kleriker bei einer Hotline des Bistums zu melden. Zum einen fühlen sich Priester als Berufsgruppe an den Pranger gestellt, ein bereits herrschendes Stigma werde verstärkt. Zum anderen aber rufe hier die Täterorganisation Kirche Opfer dazu auf, sich bei ihr selbst zu melden. Im Gutachten und der eigenen Pressekonferenz hieß es noch anders: „Melden Sie sich bei den unabhängigen Anlaufstellen oder, wenn Sie möchten, melden Sie sich bei uns.“ Die Missbrauch-melden-Kampagne lasse diesen Sinn für die Situation vieler Betroffener vermissen, lautet die Kritik.
Bleiben die großen Stichworte des Gutachtens, zu denen sich die Bistumsverantwortlichen nach Vorstellung des Diözesanrates verbindlich positionieren sollen. Zu diesen Punkten meldete sich der Aachener Dachverband der Jugendverbände zu Wort. Die Pressemitteilung zitiert den Diözesanleiter Simon Hinz. Die MHG-Studie 2018 habe bereits belegt, dass es systemische Ursachen für sexualisierte Gewalt gebe. Nun sei es an der Zeit, „dass die katholische Kirche endlich lebensnahe und zeitgemäße, nicht diskriminierende Antworten auf zentrale Fragen findet“. 


Klerikalismus überwinden

Welche das sind? „Wie wird Macht in der Kirche gerecht verteilt? Was bedeutet eine an der Lebenswelt der Menschen orientierte katholische Sexualmoral? Welche Rolle spielen Frauen in der katholischen Kirche? Und wie muss das Pristeramt aussehen?“ Erst wenn diese und weitere Antworten gefunden seien, arbeite die katholische Kirche nachhaltig sexualisierte Gewalt auf, wird Simon Hinz in der Pressemitteilung zitiert. 
Dass Bischof Helmut Dieser den Klerikalismus als eine systemische Ursache klar benannt habe und dagegen vorgehen möchte, begrüßt der BDKJ-Leiter. Das Gutachten lege Vorschläge zur Demokratisierung der Kirche vor, welche der Dachverband der Jugendverbände voll und ganz bestätige und bekräftige.