Jeder braucht gute Wurzeln

Corona macht Erfahrungen möglich. Das Beispiel einer neuartigen Wallfahrt der KAB

(c) Ralf Linnartz
Datum:
14. Juli 2020
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 29/2020 | Thomas Hohenschue

Leben im Zeitalter der Pandemie. Wenige Monate erst begleitet uns das neuartige Coronavirus und hat doch bereits unseren Alltag in vielen Punkten auf den Kopf gestellt. Aber neben allem Negativem, Lästigem, Bedrohlichem machen seine Auswirkungen auch den Weg frei für Erfahrungen, die neu sind oder zumindest verschüttgingen. Was davon werden wir in unseren Alltag einziehen lassen und nicht vergessen, selbst wenn diese Zeit dank Impfstoff und Medikamenten vorbei gehen sollte? 

Bekannt ist sie für ihren leidenschaftlichen Einsatz für Arbeitnehmerrechte, für soziale Gerechtigkeit, einen starken Sozialstaat und Ähnliches. Dass die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung aber genauso engagiert Zeugnis ablegt für die Hoffnungsbotschaft des christlichen Glaubens, ist nicht jedem bekannt. Wie andere Verbände im Bistum Aachen auch pflegt die KAB ein reiches religiöses Leben und bietet ihren Mitgliedern spirituelle Ankerpunkte, an denen sie in ihrem gesellschaftspolitischen Engagement immer wieder im Jahr anlegen können.

Einer dieser Ankerpunkte ist die Männerwallfahrt. So, wie sie traditionell Menschen aus der KAB zum gemeinsamen Beten, Singen und Gehen zusammenführt, ging es in diesem Jahr aus Gründen des Infektionsschutzes nicht. Sollte es also heißen wie an so manchen anderen Stellen: „abgesagt“? Das Team um KAB-Diö-zesanpräses Ralf Linnartz entschied sich dagegen. Das, was daraus entstand, ist für den Seelsorger ein Beispiel dafür, „dass es in unserem Bistum an vielen Stellen kreative Köpfe gibt, die in dieser Situation nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern neue Formate stricken.“ Aus der klassischen KAB-Männerwallfahrt sei so ein neues Angebot geworden, das noch mehr Menschen mitnahm und breiteres Mitmachen möglich machte, sagt Linnartz.

Konkret hieß das: Die KAB lud kürzlich zu einer Wallfahrt ein, die das momentan gebotene soziale Distanzieren ernst nahm, aber trotzdem auf verschiedene Weisen eine Verbindung und Vernetzung herstellte. Wer sich anmeldete, bekam spirituelle Impulse zugeschickt und konnte sich per Messenger und sogar Videokonferenz zuschalten. Viele Männer und auch Frauen machten sich zur selben Zeit auf den Weg, im Wissen, dass es andere KAB-Mitglieder auch taten, mit demselben Anliegen. Sie teilten ihre Eindrücke, Gedanken und Gefühle fotografisch und textlich, schickten sie zeitgleich an andere, ließen sie in der Videokonferenz aufleben, schickten Postkarten, schrieben Briefe und E-Mails für eine gemeinsame Nachlese.

Was beim Diözesanpräses und seinem Team anlandete, beeindruckte in seiner Fülle und Tiefe. Viele spazierten, wanderten oder radelten mit einem weit geöffneten Blick durch die Landschaft. Manches, das man sonst nicht bewusst wahrnimmt oder dem man keine Beachtung schenkt, erhielt eine neue Bedeutung. Das neu Gesehene lud ein, über den Sinn des Lebens, über Gott, über Gerechtigkeit, Versöhnung, Frieden nachzudenken. Welche Geschichte steckt hinter Wegkreuzen? Welche Schicksale verbinden sich mit dem Niederbrennen einer Synagoge, an das eine eingelassene Platte erinnert? Wie passt das zu den Gedenktafeln für die Gefallenen der beiden Weltkriege? Ist solches Unrecht wirklich künftig unmöglich?


Wie sich der Horizont erweitert

Auch die Coronakrise spielte bei vielen Pilgernden eine Rolle. Wie sehr hätten nun viele Menschen die sozialen Errungenschaften gebrauchen können, für die die KAB immer eintritt, wie zum Beispiel das bedingungslose Grundeinkommen, schildert einer seine Gedanken. Andere hinterfragen, ob neben den viel gelobten Zeichen der Solidarität nicht der alte Egoismus in der Gesellschaft weiter Vorfahrt habe. Dritte wiederum sind einfach dankbar für das Gute in ihrem Leben und ihrer Umgebung. „Mir ist durch die Pandemie etwas mehr bewusst geworden, dass nichts – gar nichts – selbstverständlich ist und wie wichtig mir die Gemeinschaft mit Freunden ist“, schreibt ein KAB-Mitglied.
Ralf Linnartz ist begeistert, wie die Männer und Frauen das aufgegriffen haben, was ihnen wichtig ist, und ihre jeweils eigene, passende Form für die Wallfahrt gewählt haben. „Dieser kreative, selbstbestimmte Umgang mit der Thematik und den Vorlagen kann geradezu eine Art Schule für kirchliche Verantwortungsträger sein, wie Kirche-Sein heute gehen kann“, schlussfolgert er. Für ihn lautet das Fazit: „viel mehr die Situationen und Lebenslagen und die Freiheit und Selbstbestimmtheit der Menschen wirklich ernst nehmen als bestimmen zu wollen, wer was spirituell tun soll und darf“.

Für ihn persönlich hat sich durch diese Wallfahrt ebenfalls der Horizont erweitert, nämlich mit dem Aha-Erlebnis, wie sehr digitale Medien helfen können, Gemeinschaft zu pflegen. Selbst zu pilgern und gleichzeitig mitzubekommen, was die anderen tun, sei sehr interessant gewesen, habe Nähe hergestellt, wo aus medizinischen Gründen zurzeit Distanz angesagt sei. Davon wird etwas bleiben, hofft Ralf Linnartz. Ihm ist bewusst, dass manche Ältere nicht mit dem Smartphone unterwegs sind oder zumindest den digitalen Austausch scheuen. Auch haben manche zurückgemeldet, dass sich in kleinen Gruppen beim gemeinsamen Gehen intensivere Gespräche ergäben. Für den KAB-Diözesanpräses geht es allerdings nicht um ein „Entweder-oder“. Er tritt ein für ein entschiedenes „und“, um das Gute aus diesem Jahr zu bewahren.

Eindrücke von der KAB-Wallfahrt

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