Ist der Mensch auf dem Weg, den Tod zu überwinden?

Podiumsdiskussion auf dem Tag für Religionslehrerinnen und -lehrer: Von Allmachtfantasien, ungeahnten Möglichkeiten und der Frage, was wir Menschen in Zeiten der Technisierung wirklich wollen

(c) Bistum Aachen/Andreas Steindl
Datum:
12. Juni 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 24/2024 | Stephan Johnen

Die Grenzen dessen, was möglich ist, werden in Medizin und Technik beinahe täglich neu vermessen. Wir haben Jahrtausende gebraucht, um von Jägern und Sammlern zu Bauern und Viehzüchtern zu werden. Vor 150 Jahren hat die Industrielle Revolution die Gesellschaft erneut durchgewirbelt. Seit den 1970er Jahren nun schreitet die digitale Revolution voran. Zunächst kaum spürbar, formt sie mittlerweile in einem Tempo unsere Zukunft, von der wir selbst angesichts dieser Dynamik nur noch eine vage Vorstellung haben.  Wo sind die Grenzen? Gibt es diese noch? Und wie steht es um Moral und Ethik? Wie weit darf oder sollte der Mensch überhaupt in den Schöpfungsplan eingreifen? „Mensch allmächtig? Wie leben in den Zeiten der Technisierung?“ war eine Podiumsdiskussion auf dem „Reliday“ für Religionslehrerinnen und -lehrer im Bistum Aachen überschrieben. 

"Das, was wir Fortschritt nennen, verursacht jetzt schon eine Menge Kollateralschäden." Von der Systematischen Theologie zur praktischen Seelsorge: Prof. em. Dr. Ulrich Lüke ist Krankenhausseelsorger in Münster.

In der Aula des Bischöflichen Pius-Gymnasiums in Aachen diskutierten Professor Dr. Uwe Janssens (Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital Eschweiler und Sprecher der Sektion Ethik der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin), Professor emeritus Dr. Ulrich Lüke (ehemals Lehrgebiet Systematische Theologie RWTH Aachen, jetzt Krankenhausseelsorger am Franziskus-Hospital Münster) und „Cyborg“ Ralf Neuhäuser, der sich mit Hilfe technischer Implantate das Leben vereinfachen möchte und sich als „Evangelist des fortschrittlichen Lebens“ bezeichnet.

Moderiert wurde der mitunter kontroverse Meinungsaustausch von der Journalistin Susanne Fritz (Deutschlandfunk). Auf die Eingangsfrage, wie nahe der Mensch durch den technischen Wandel an die Allmacht herangekommen sei, antwortete Ulrich Lüke klipp und klar: „Allmächtig kann nur ein göttliches Wesen sein.“ Der Mensch könne mächtiger und sehr mächtig werden, „aber Allmacht würde bedeuten, dass wir uns selbst verursachen können“. Menschen könnten durchaus fleißig sein, intelligent und sozial gut vernetzt – aber niemals allmächtig. Zum Glück: „Irgendwann ist auch einmal Schluss mit der Macht. Wenn wir mit unserem Mediziner- und Theologen-Latein am Ende sind, müssen wir unsere Endlichkeit eingestehen. Wir können das Unausweichliche um ein paar Jahre verschieben und verzögern – aber alles andere wäre Größenwahn“, betonte der Theologe, Biologe und Priester.

Ebenso sei Allwissenheit kaum vorstellbar, auch nicht mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz. „Wir Menschen sind geschlagen mit einer prognostischen Unfähigkeit. Das müssen wir uns immer wieder bewusst machen“, erklärte Lüke und zitierte ein Gedankenexperiment aus dem Jahr 1963, als sich 30 Nobelpreisträger Gedanken über die Zukunft des Menschen machten. „Das war die Champions League der Biologie und Medizin“, scherzte Lüke.

Aus heutiger Sicht wirken die damaligen „Prognosen“ zumindest schräg, ein wenig auch gruselig: Damit mehr Menschen in Raumkapseln passen, sollten Menschen mit großen Köpfen und kleinen Körpern gezüchtet werden. Die genetische Verschmelzung von Mensch und Schimpanse wiederum sollte eine neue Arbeitskraft verfügbar machen: Intelligent genug, um am Fließband zu arbeiten, aber nicht clever genug, um dagegen aufzubegehren. „Mich macht das besorgt“, blickte Lüke auf die Überlegungen der Vergangenheit zurück. „Und es zeigt mir auch, dass die Menschen mit den größten intellektuellen Möglichkeiten nicht immer die mit den besten ethischen Ansätzen sein müssen.“

„In der Medizin gab es viele positive technische Errungenschaften, die vor 30 Jahren noch unvorstellbar waren“, wertete Intensivmediziner Uwe Janssens die „gigantischen Fortschritte“ durchaus als Gewinn für die Menschheit. Es seien Erfolge „einer präzisen Medizin“, die beispielsweise Organe, die ausfallen, vorübergehend ersetzen könne, um die Funktion wiederherzustellen. Die künstliche Herstellung des Insulins sei ein 
Beispiel dafür, wie eine Krankheit beherrscht werden könne und ein „Weiterleben über Jahrzehnte“ ermögliche. Uwe Janssens: „Was wir jetzt vermögen, ist gigantisch. Wir haben wirklich ein längeres Leben – mit vielen Fragen, die dann auftauchen.“

Fragen, die nicht von einer Künstlichen Intelligenz geregelt werden könnten beziehungsweise geregelt werden sollten. „Wenn wir mit KI die Menschlichkeit regeln, brauchen wir uns Menschen nicht mehr“, betonte der Mediziner. Es gebe bis heute keine hundertprozentige Sicherheit in der Prognosestellung. Aber diese „Unschuld der Unwissenheit und Unsicherheit“ sollte sich eine dem Menschen dienende Medizin auch bewahren. „Was bringt es, wenn ich einem Patienten heute sagen kann, dass er in 15 Jahren stirbt?“, fragte Janssens.

"Was wir jetzt vermögen, ist gigantisch. Wir haben wirklich ein längeres Leben – mit vielen Fragen, die dann auftauchen." Intensivmediziner Prof. Dr. Uwe Janssens ist Chefarzt am St.-Antonius-Hospital Eschweiler.

Er sieht es als ethische Aufgabe, zu erkennen und auch zu sagen, dass „dieser technische Fortschritt dazu geführt hat, dass ein Gefühl entstanden ist: Es ist alles möglich.“ Ein Trugschluss, ein falscher Weg. Er erlebe täglich, dass das Thema Sterben in eine gesellschaftliche Nische geraten sei, auch unter Medizinern. Janssens: „Das ist bedenklich, das erzeugt ein Gefühl der Unendlichkeit und Allmacht. Wir müssen kritisch denken und auch manche Mediziner daran erinnern, dass wir uns ab einem gewissen Punkt zurückziehen, aber den Weg zum Lebensende begleiten sollten. Wir können uns dem Tod nicht in jedem Fall entgegenstemmen und die Technisierung in einer mechanistischen Medizin so nach oben hängen, dass wir die Ganzheitlichkeit des Menschen aus den Augen verlieren.“

Für Ralf Neuhäuser hingegen ist es nur logisch, die Überwindung des Todes als nächstes großes Ziel der Menschheit zu definieren. „Oder zumindest das Leben sehr lange zu gestalten“, formulierte er einen eigenen Wunsch an die Zukunft. Er selbst hat zwölf Chips, mehrere Magnete und in jedem Arm eine LED implantieren lassen, die ganz unterschiedliche Funktionen übernehmen: Sie ersetzen die Bankkarte, dienen als Ersatz für Schlüssel, speichern Notfall- und Kontaktdaten. Durch dieses „Human Upgrading“, eine Art Funktionserweiterung, könne er beispielsweise Magnetfelder erspüren, die Körpertemperatur in Echtzeit messen oder über den Knochenschall im Kopf ein Audiosignal abspielen. „Das gibt mir einen neuen Sinn, den ich von Geburt an nicht habe“, sagte er. Seine Motivation, dies zu machen? „Ich wehre mich gegen diese ‚German Angst‘, ich möchte für den technischen Fortschritt werben“, sagte er. Natürlich müsse jeder Schritt stets freiwillig erfolgen, aber durch auslesbare Chips unter der Haut könnten viele zentrale Gesundheitsdaten beispielsweise im Notfall schnell zu einer zielgerichteten Hilfe dienen. Neuhäuser: „Der technische Fortschritt schreitet voran. Ich setze mich kritisch damit auseinander, lehne ihn aber nicht ab.“ 

Lässt sich das Leben entfristen?

"Der technische Fortschritt schreitet voran. Ich setze mich kritisch damit auseinander, lehne ihn aber nicht ab." Ralf Neuhäuser bezeichnet sich selbst als „Evangelist des technischen Fortschritts“.

„Ich möchte nicht die Technisierung in Frage stellen. Aber wenn wir glauben, durch die Verbesserung der Technisierung der Humanität dienlich zu sein – da habe ich meine Fragen“, gab Ulrich Lüke zu bedenken. „Die Lebensverlängerung, die uns bisher gelungen ist, ist und bleibt ambivalent. Ich weiß nicht, ob ich es selbst als so erstrebenswert erachte, bis 95 zu leben und dement zu werden. Aber zu glauben, wir könnten das Leben entfristen, ist eine Allmachtfantasie.“ Selbst wenn es gelänge, 250 Jahre alt zu werden, stelle sich die Frage: Mit welchen Ressourcen? Auf wessen Kosten? Lüke: „Das, was wir Fortschritt nennen, verursacht jetzt schon eine Menge Kollateralschäden. Die Fantasie des ewigen Lebens gibt es schon ganz lange. Wir sind dabei, vieles am Menschen zu verbessern. 
Wir werden kein Prometheus, wir werden Protheteus.“

„Es ist ein katastrophaler Fehler, Menschen draußen zu sagen, sie bekämen alles“, warnte Intensivmediziner Uwe Janssens vor einer „Übertechnisierung“. Seine Forderung: „Da muss die Gesellschaft ran. Wir können als Ärzte nicht sagen, was geht und was nicht geht, das muss gesamtgesellschaftlich entschieden werden.“ Generell werde die Medizin immer besser, aber auch immer teurer. Menschliche Zuwendung dagegen, Zeit für Patientinnen und Patienten, sei extrem wichtig – aber im System nicht gegenfinanziert, während manche Eingriffe ohne Not auf der Kostenseite abgedeckt würden. Janssens: „Vielleicht müssen wir manches auch wieder zurückdrehen und fragen, wie überhaupt der Wille der Menschen aussieht. Will ein hochbetagter Patient wirklich beatmet werden? Kein Mensch kümmert sich darum. Wir legen lieber Geräte an Menschen an als vorauszuplanen.“ Es herrsche zudem ein „unglaubliches Ungleichgewicht“ zwischen Kinder- und Intensivmedizin. „Die Gelder werden verschoben zu denjenigen, die die Stimmen abgeben“, fordert der Mediziner eine gerechtere Verteilung der Mittel.

Kaum eine Grenze der Machbarkeit sah Ralf Neuhäuser. „Um überleben zu können, müssen wir multiplanetar werden, Terraforming auf dem Mars betreiben“, skizzierte er eine mögliche Zukunft, bei der die „biologischen Grenzen des Menschen durch technische Mittel“ aufgehoben wurden. Die KI könne dabei helfen, Dinge zu optimieren, Genfehler zu beseitigen. Für ihn gehe es um ein Streben nach Fortschritt. Die Frage, ob dies eine Religion sei, in der der technische Fortschritt Gott ersetzt hat, verneinte er. „Was ich nicht weiß, muss ich immer glauben. Es gibt Dinge, die sind außerhalb unserer Wahrnehmung, außerhalb unseres Denkens. Aber das hat auch keine Relevanz für mich“, fügte er hinzu.

„Es ist eine Religion“, konterte Ulrich Lüke, der wissen wollte: „Wie kommen Sie zu dem Dogma, dass alles besser wird durch Technik? Wie kommen Sie zu den Zielen? Wissen wir, welche technischen Applikationen der Mensch der Zukunft benötigt, wie er genetisch aufgestellt sein soll? Wir kennen die Zukunft ja gar nicht! Wir segeln nach einer Marke, die wir an den Bug des eigenen Schiffes genagelt haben.“ Als Theologe erkenne er hier eine ganz klare Grenze: „Technik sollte subsidiär sein, unterstützend bleiben. Und ich gebe nicht gerne meinen ethischen Kompass bei der KI ab.“ Auch Mediziner Uwe Janssens schreckte dieses Zukunftsbild samt „Entmenschlichung der Menschheit“ ab: „Sie übertreiben da ein bisschen scharf.“ Utopie oder Dystopie? Egal, was die Zukunft bringen mag, entscheidend wird sein, welche Weichen gestellt und welche Grenzen bereits heute von Menschen gesetzt werden.