„Im Grunde stehen wir dem Ganzen hilflos gegenüber“

Seit dem Überfall der Hamas auf Israel herrscht Krieg. Wie könnte der Weg zum Frieden aussehen? Und wieso kocht auch in Deutschland der Antisemitismus hoch? Versuch einer Einordnung.

mohammed-ibrahim-jrcvHflmKvg-unsplash (c) Mohammed Ibrabhim/unsplash.com
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Datum:
31. Jan. 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 05/2024

Seit mehr als 100 Tagen tobt im Nahen Osten ein neuer Krieg. Auslöser war der Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, bei dem mehr als 1100 Menschen getötet und 250 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt worden sind. Die Spirale der Gewalt dreht sich seitdem weiter. Die KirchenZeitung hat mit Dr. Emanuel Richter, emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der RWTH Aachen University, über die Hintergründe des Konflikts und die religiöse Dimension gesprochen. Und darüber, warum Zeitdruck herrscht, eine Verhandlungslösung zu finden.

Dr. Emanuel Richter (Jahrgang 1953) ist emeritierter Professor für Politische Systeme am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen University. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie, Germanistik und Philosophie in Mainz, Bonn und Paris. Vor seinem Wechsel nach Aachen im Jahr 2000 lehrte und forschte er an der University of California, Irvine. Seit 2015 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik. (c) Amerikahaus Köln
Dr. Emanuel Richter (Jahrgang 1953) ist emeritierter Professor für Politische Systeme am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen University. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie, Germanistik und Philosophie in Mainz, Bonn und Paris. Vor seinem Wechsel nach Aachen im Jahr 2000 lehrte und forschte er an der University of California, Irvine. Seit 2015 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik.

Herr Richter, welche Gedanken hatten Sie am 7. Oktober?

Ich war entsetzt über den Überfall der Hamas. Und ich denke, dass wir alle entsetzt sein sollten über die Brutalität, die sich an diesem Tag gezeigt hat. Diese Art von Menschenverachtung, Wut und Aggression ist ungeheuerlich und unfassbar. Hier richtete sich eine grenzenlose Gewalt gegen Anonyme. Das Entsetzen der Welt war berechtigt.

 

Es gibt durchaus Stimmen, die die Hamas als Befreiungsorganisation sehen. Was denken Sie?

Es gibt in der Geschichte des Nahostgeschehens vieles, was Leid und Unterdrückung hervorgerufen hat und den Ruf nach einer Befreiung ausgelöst hat.  
Ja, der Konflikt zwischen Palästinensern und Israel ist schon alt und die Palästinenser haben gelitten. Dies wurde alles schon vor dem 7. Oktober als Problem identifiziert – es ist aber alles keine Rechtfertigung für einen brutalen Überfall. Angesichts dieses terroristischen Akts ist jetzt nicht der Zeitpunkt, einer Befreiungsbewegung zuzusprechen. Solche Reaktionen kommen nicht nur zum falschen Zeitpunkt, sie stellen auch eine Schieflage im Verhältnis zwischen Aktion und Reaktion dar. Äußerungen beispielsweise von Greta Thunberg, die das palästinensische Leid in den Mittelpunkt stellen, ohne den Angriff auf Israel überhaupt zu erwähnen, halte ich insofern für verfehlt und gefährlich.

 

Südafrika wirft Israel vor, Völkermord an den Palästinensern zu begehen, und hat das Land beim Internationalen Strafgerichtshof verklagt. Wo beginnt das Recht auf

Selbstverteidigung und wo endet es?

Israel hat jedes Recht der Welt, sich nach diesem Angriff zu verteidigen. In jedem Krieg gibt es aber Grenzbereiche, die ins Unrecht kippen, bei denen man sich fragt: Ist das noch Bekämpfung des Feindes oder ein Rachefeldzug? Zugleich steckt im Vorgehen der Hamas eine unglaubliche Aggressivität und Skrupellosigkeit, die nichts mit Selbstverteidigung zu tun hat. Es war zwar bekannt, dass die Hamas Tunnel angelegt hat. Aber Hauptquartiere und Waffenlager unter Schulen, Kitas und Krankenhäusern anzulegen, zeugt von Menschenverachtung sogar gegenüber der eigenen Bevölkerung. Alles zeigt, zu welcher Form der Brutalität die Menschen im Stande sind. 

 

Israel verteidigt sich legitim – und greift den Gazastreifen an. Heiligt der Zweck die Mittel?

Diese Gleichung gilt nicht. Kein Zweck heiligt generell die Mittel. Es ist völkerrechtlich geregelt, was erlaubt ist und was nicht. Auch Israel hat entsprechende Grenzen überschritten. Wo die Grenzen legitimer Reaktionen liegen, können jedoch im Moment selbst Völkerrechtler nicht klar bewerten. Informationen über den Kriegsverlauf unterliegen der Geheimhaltung, Bilder widersprechen sich. Beide Seiten setzen gezielt Bilder ein, um zu zeigen, was die andere Seite vermeintlich anrichtet. Aber können wir erkennen, was authentisch ist und was Fake News sind? Im Grunde stehen wir dem Ganzen als Zuschauer hilflos gegenüber. Es ist schwer, sich objektiv und sachlich eine Meinung zu den Geschehnissen seit dem 7. Oktober zu bilden.

 

 

Wie würden Sie als Politikwissenschaftler denn die Lage im Nahen Osten vor dem 
7. Oktober beschreiben?

Eines stellt wohl niemand in Frage: Die Lage ist unglaublich komplex und schwierig. Es gibt mindestens drei, eher vier oder mehr Dimensionen eines tiefgreifenden Konfliktes, der seit langem schwelt.

 

Welche Rolle spielt dabei die Religion?

Natürlich spielen die unterschiedlichen Weltreligionen und deren Beheimatung in der Region eine Rolle – besonders in einem programmatisch-ideologisch aufgeheizten Umfeld. Der Konflikt zwischen Juden, Christen und Moslems ist nicht neu, er ist vielmehr in der Nahostregion seit Jahrhunderten angesiedelt. Allerdings ist er nur einer von vielen Aspekten. Ja, die Religion ist eine der Konfliktdimensionen – aber eigentlich gar nicht die dominante.


 
Der Konflikt ist also kein Religionskrieg?

Die religiöse Dimension wird überbetont. Die Konfliktlinien liegen eher in anderen Bereichen. Es geht um eine territoriale Dimension, um Landbesitz. Der Anspruch, dass es einen eigenen Staat Israel braucht, ist ja schon sehr alt, er geht zurück ins 19. Jahrhundert. Die Problematik hat sich dann verschärft mit der Niederlegung des britischen Mandats und der am 14. Mai 1948 erfolgten Gründung des Staates Israel. Sehr viele Juden sind in diesen neuen Staat eingewandert und haben unmittelbar eine Vertreibungspolitik begonnen. Die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien, die das Gebiet Palästina nach dem Ende des Osmanischen Reiches seit 1920 im Auftrag des Völkerbundes verwaltet hatte, hat diese Verwaltung nicht gut gehandhabt. Es gab einen ungeregelten Kampf um Wasser, um fruchtbare Böden  – und niemand wusste, welche Art von Lösung man initiieren sollte. Rückblickend lässt sich sagen: Großbritannien hat als vorausschauende Verwaltungsmacht versagt, so wie sie in Indien, Pakistan, Kaschmir und Afrika versagt hat, indem Großbritannien Hals über Kopf aus seinen Verpflichtungen ausstieg und Chaos hinterlassen hat.

 

Hals über Kopf – also eine Flucht aus der Verantwortung?

Viele Probleme blieben schlichtweg ungelöst. Das spiegelt sich auch in der Brutalität des Hamas-Angriffs wider, der von angestautem Hass getragen wurde. Die Frage nach der territorialen Zugehörigkeit der Sinaii-Halbinsel, des Gazastreifens, des Westjordanlands – damals wie heute standen und stehen hier mehrere Mächte im Konflikt miteinander. Das waren alles absehbare Problemstellungen, die offenbar nicht richtig im Blick gehalten worden sind. Ebenso wie die ethno-nationalistische Dimension, die Frage nach der Staatlichkeit.

 

Welche Hintergründe hat diese Dimension?

Es gibt einen historischen Kampf zwischen dem politischem Zionismus und dem palästinensischen Nationalismus, der durch die Staatsgründung Israels angefeuert worden ist. Die Palästinenser waren einst überall im Nahostgebiet breit verteilt, dann kam es zu Vertreibungen. Heute hat nur ein Teil von ihnen die israelische Staatsbürgerschaft, und die zentrale Frage, wo die Menschen denn siedeln sollen, ist nach wie vor nicht geklärt. Wir haben Israelis, Palästinenser mit israelischem Pass und externe Palästinenser – aber die Frage, wie diese Zugehörigkeiten zueinander positioniert werden, wie ein Zusammenleben positiv und gleichberechtigt gestaltet werden kann, wurde von Anfang an vernachlässigt. Und das führt uns zur nächsten Konfliktdimension, der regionalen Gemengelage.

 

Kommen hier die Nachbarstaaten ins Spiel?

Ja, es gibt eine komplexe Großmächte-Konstellation rund um das Thema. Die USA sind die Schutzmacht Israels. Aber es gibt seit Langem eine Macht, die den Anspruch hat, eine Vormachtstellung in der Region auszuüben: Iran. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reichs gegen Ende des Ersten Weltkriegs hat für viele ungelöste Turbulenzen gesorgt, beispielsweise im Libanon, Irak, Syrien, Jordanien und Ägypten. Die Versuche einzelner Länder, ihr Verhältnis zum Iran zu definieren, wertete diesen als Großmacht auf. Die erklärte Feindschaft zwischen Israel und Iran, verbunden mit dem Bedrohungspotenzial von Atomwaffenarsenalen, ist ein hochbrisanter Konflikt, der immer weiter schwelt. Dabei hat der Iran selbst mit innerstaatlichen Turbulenzen zu kämpfen, in der jüngeren Geschichte haben sich seine Regierungsformen einander oft genug gewaltvoll abgelöst.

 

Hat der Iran die religiöse Karte gespielt, um Öl ins Feuer zu gießen?

Ja, das hat er auf eine unerwartete Weise getan. Es gibt einen inner-muslimischen Konflikt, der zwischen Schiiten und Sunniten ausgetragen wird. Im Iran stellen die Sunniten weniger als zehn Prozent der Bevölkerung, weltweit ist aber die Mehrheit der Moslems sunnitisch. Dass die Führung des Iran mit der Hamas nun eine sunnitische Kraft unterstützt, lässt den im Iran ausgetragenen Konflikt zwischen den regierenden Schiiten und den Sunniten in den Hintergrund treten. Dieser Konflikt scheint vorerst befriedet. Der Iran unterstützt nicht nur schiitische Kräfte wie die Hisbollah im Libanon, sondern ganz offen auch die sunnitische Hamas. Diese beiden Terrororganisationen bilden plötzlich zusammen eine Einheitsfront, die zusammensteht gegen Israel, das Judentum und das Christentum. Ich halte das für eine zusätzliche Verschärfung der Konfliktlage.

 

Der Iran schürt außenpolitisch Feuer, um im Inneren Ruhe zu haben?

Ich kann nicht beurteilen, wie stabil der Iran im Inneren wirklich ist. Nach wie vor gibt es trotz der Härte des Regimes Kopftuchdebatten und viele Kräfte, die dieses Regime scharf kritisieren und für Instabilität sorgen. Wir haben gesehen, wie schnell ein System hinweggespült und etwas Neues installiert werden kann. Durch die Terrorangriffe der Hamas und die Reaktion Israels mit einer Bombardierung des Gaza-Streifens wurde das Regime im Iran aber eher gefestigt denn geschwächt. Sein bisheriges Heraushalten aus den aktuellen Auseinandersetzungen kann jedoch auch schnell wieder kippen. Darüber hinaus gab es viele Verhandlungen der Anrainerstaaten mit Israel in der Vergangenheit. Ob diese alle im Interesse des Irans waren, bezweifle ich. Der Iran hat also Feinde im eigenen Lager der ansässigen Regionalmächte.  

 

Sind die Annäherungen der arabischen Anrainer und der Palästinenser an Israel nun gescheitert?

Der Oslo-Prozess, der 1993 unter großer Einflussnahme der USA startete, war so weit fortgeschritten wie nie zuvor. Oslo war ein zentraler Schritt in Richtung Zweistaaten-Lösung – dann kam 1995 die Ermordung des israelischen Ministerpräsident Jitzchak Rabin, der einer der maßgeblichen Partner dieses Prozesses gewesen ist. Damit war eigentlich alles wieder auf Null gestellt. Seitdem wurden eher Rückschritte gemacht. Es gab mehrere Möglichkeiten, Optionen und Modelle, wie man diesen riesigen Konflikt irgendwie gelöst bekommen könnte, aber 1996 trat der heutige Ministerpräsident Benjamin Netanjahu seine erste Amtszeit an und versammelte damals schon die radikalen Kräfte hinter sich. Er ist ein ausgemachter Gegner der Zweistaaten-Lösung, für ihn ist das gar keine Option.

 

Donald Trump setzte sich als US-Präsident auch für eine Zwei-Staaten-Lösung ein. Welche Ziele verfolgte er?

Diese Idee ist von Trump in seiner Amtszeit nur mal kurz aufgegriffen worden, dahinter steckte aber eigentlich das Vorhaben einer Ein-Staaten-Lösung zugunsten Israels. Nach Trumps Vorstellungen wäre das Westjordanland fast komplett in israelische Hand gegangen. So kommt man jedoch überhaupt keinen Schritt voran.

 

Netanjahu steht massiv unter Kritik, ist das eine Chance für den Frieden?

Netanjahu ist zumindest angezählt. Viele Menschen in Israel fragen sich, warum es überhaupt soweit gekommen ist, warum die Grenze nicht ausreichend geschützt war, wieso er die Hamas unterschätzt hat. Aber es ist auch nicht klar, wie es ohne ihn weitergehen könnte. Es ist immer schwerer geworden, bei Wahlen klare Mehrheitsverhältnisse hinzubekommen. Die religiös motivierten rechten Kräfte in Israel sind sehr stark. Die Spaltung der Gesellschaft ist tief und fatal. Eigentlich kann man sich eine Zweistaaten-Lösung auch nicht mehr richtig vorstellen. Die Siedlungspolitik ist unter Netanjahu massiv vorangetrieben worden, die Siedler sind oft sehr radikal in ihrer religiösen Ausrichtung, in der ethno-nationalistischen Dimension sehen sie alle Palästinenser als Feinde, es gibt ihnen gegenüber massive Formen der Missachtung und Unterdrückung. Will man nun Tausenden von israelischen Siedlern sagen: „Zieht bitte um?“ Dazu gibt es keinerlei Bereitschaft, zumal die Frage aufkommt: Wohin sollen sie eigentlich ziehen in dem dicht besiedelten Israel?

 

Also gibt es schlichtweg keine Lösung?

Aref Hajjaj (ein 1943 in Jaffa geborener Politikwissenschaftler und Vorsitzender des Palästina-Forums, Anmerkung der Redaktion) hat Ende Dezember in der Süddeutschen Zeitung den Traum von einem neuen Staat skizziert: „Willkommen in Abraham/Ibrahim“. Es gibt in diesem Traum kein Israel und kein Palästina mehr, sondern eine Ein-Staaten-Lösung nach dem Modell der Schweiz. Hajjaj argumentiert, dass ein Rückbau des heutigen Konstrukts zu zwei unabhängigen Staaten realistisch gar nicht vorstellbar ist. Stattdessen gäbe es kleinere, ethnisch-religiöse Inseln, die ihr Verhältnis zueinander und gemeinsam nach außen regeln müssten. Diese Koexistenz müsste über eine geschriebene Verfassung reguliert werden. Dieser Staat sollte und könnte nicht Israel heißen. „Abraham/Ibrahim“ kann sowohl moslemisch als auch jüdisch interpretiert werden.

 

Damit wäre aber das Existenzrecht Israels in Frage gestellt?

Das bestehende Existenzrecht Israels gilt vielen Israelis als unantastbar und unabänderlich. Dem widerspricht tatsächlich diese Einstaaten-Lösung. Zugegeben, ich selbst bin eher ratlos, wie man eine entsprechende Änderung herbeiführen könnte. Ein brauchbares Modell könnte auch ein Föderalismus nach deutschem Vorbild sein. Diese Lösung könnte ein Zwischending sein zwischen Mehr-Staaten-Lösung und Einheitsstaat und insofern eine politische Chance. Wir brauchen aber zunächst andere Ausgangsbedingungen, nämlich Offenheit gegenüber staatsrechtlichen Veränderungen.

 

Wie wäre es mit Frieden?

Dafür bedarf es neuer Verhandlungen, rechtlicher Regelungen und einer beidseitigen Symbolpolitik im Sinne einer demonstrativen Bereitschaft zur Aussöhnung. In diese Richtung muss es gehen. Aktuell erleben wir dagegen einen Prozess der Selbstzerfleischung, bei dem auch Israel Schaden nimmt. Im Gazastreifen ist der von der Hamas angetriebene Hass auf Israel durch die israelische Reaktion noch einmal verstärkt worden. Es werden neue Radikale nachwachsen. Das israelische Kalkül, alle Terroristen auslöschen zu wollen und dadurch Frieden zu schaffen, ist illusorisch. Für eine neuartige friedliche Koexistenz können wir nur auf eine Zeit nach Netanjahu hoffen. 


 
Was wäre der erste Schritt in Richtung Frieden?

Alle Beteiligten müssten die religiös verankerte Konfrontation in den Verhandlungen aufgeben. Ideologische Strömungen müssten heruntergekocht, Säkularisierungsprozesse in Gang gesetzt werden. Ob dies unter den derzeitigen Vorzeichen möglich ist, bleibt fraglich. Ich erlebe die Frontstellungen der Religionen, die überbordenden Einfluss auf das kulturelle Selbstverständnis der Regionalmächte nehmen, jedenfalls als schädlich. Der Einfluss der Glaubensbekenntnisse muss aus der Politik herausgehalten werden. Zugleich drängt die Zeit, denn eine Wiederwahl Trumps würde alles wieder umstoßen, was in Richtung eine stabilen, für alle Seiten akzeptablen Neuordnung unternommen werden könnte, und Netanjahu würde in seiner Radikalität nur noch bestärkt. 

 

Hat Netanjahu zur Radikalisierung der Palästinenser selbst beigetragen?

Ihm ist die Weigerung anzulasten, auf irgendeine Art von Koexistenz mit den Palästinensern hinzuarbeiten. Er vertritt im Verein mit radikalen israelischen Kräften die Meinung: Das ist alles unser Gebiet, wir dulden die Palästinenser als Minderheit im eigenen Land, verweigern ihnen aber Rechte. Diese Herabstufung hat beide Lager gestützt: Hisbollah und Hamas. Und Netanjahu hat die daraus resultierenden Gewaltbereitschaft offenbar unterschätzt. Die moslemischen radikalen Kräfte spielen sich nun als Rächer für das ganze vergangene Unrecht auf. Es muss aber andere Lösungen geben als die ständige, gewaltvolle Aufeinanderfolge von Reiz und Reaktion.

 

Seit dem Krieg in Nahost kocht auch in Deutschland der Antisemitismus hoch. Wie können Sie sich das erklären?

Vorab bleibt zu sagen: Antisemitismus ist als Ressentiment gegenüber einer ganzen Glaubensgemeinschaft schlichtweg irrsinnig. Ich glaube, dass der latente Antisemitismus schon immer da war und nach Gelegenheiten suchte, sich zu manifestieren. Die hat er nun gefunden. Antisemitismus wird aus der Wahrnehmung sozialer Diskrepanz und Spaltung genährt und projiziert die eigene Kränkung und Benachteiligung auf einen vermeintlichen Verursacher – eben die Juden schlechthin. Es hilft daher nicht, nur die Symptome zu behandeln und Antisemitismus wortreich zu verurteilen, wir müssen an die sozialen Ursachen der dahinterliegenden Feindbildkonstruktion heran. Jedenfalls spielt das Empfinden sozialer Benachteiligung und mangelnder gesellschaftlicher Anerkennung für das Aufkommen antisemitischer Haltungen eine große Rolle. Das geht Hand in Hand mit der Hinwendung zu nationalpopulistischen, autoritären Parteien und Bewegungen, die sich diesen Vernachlässigten zuwenden und ihnen eine soziale Aufwertung versprechen. 

 

Ist Kritik an Israel antisemitisch?

Man muss nicht Antisemit sein, um Israel kritisieren zu können. Aber gerade für uns Deutsche ist das eine schwierige Frage. Wir sind aus historischen Gründen befangen. Ja, ein Stück weit stehen wir unter dem Tabu des verordneten Schweigens. Niemand in der deutschen Politik könnte sich ans Mikro stellen und sagen: Das Existenzrecht Israels ist in der Zukunft so nicht tragfähig. Solch scharfe Diskussionen können in Deutschland nicht geführt werden. Es gibt aber genügend Israelis, die sich gegen die eigene Regierung gestellt haben und zum Teil mit sehr scharfen Worten öffentlich ein Ende der Kämpfe fordern und ein Nachdenken über neue politische Modelle. Denen können wir getrost die Wortführung überlassen. 

 

Apropos Kritik: Welche Rolle spielt womöglich die EU beim Erstarken der Hamas, die der palästinensischen Autonomiebehörde lange Zeit Fördermittel zur Verfügung gestellt hat, die womöglich für andere Zwecke missbraucht worden sind?

Es gibt in den Palästinensergebieten überhaupt keine klare Regierung. Das Verhältnis der Autonomiebehörde zur Hamas ist undurchsichtig, der Vertretungsanspruch war schon immer umstritten, viele Länder erkennen die Behörde gar nicht an. Wohin EU-Gelder fließen, lässt sich daher teilweise kaum nachverfolgen. Zum Handeln der EU möchte ich sagen, dass ich schon glaube, dass wir nicht intensiv genug hingeschaut haben, wo die Gelder hingeflossen sind. Der Schaden ist aber nun mal angerichtet. Die EU muss jedenfalls aktuell massive Versäumnisse einräumen. Das gilt auch für die Hilfestellung gegenüber Israel. Europa hat sich nicht in die israelische Siedlungspolitik eingemischt, obwohl es offenkundig völkerrechtswidrig war, neue Siedlungen zu bauen. Es gab bei beiden Themen keine klaren Richtlinien, Kontrollen und Stellungnahmen.

 

Was erhoffen Sie sich für die Zukunft?

Dass es möglichst schnell eine Form der Befriedung gibt, dass alle Beteiligten wieder miteinander verhandeln. Dabei werden die Anrainerstaaten in der Großregion eine wichtige Rolle spielen, wie etwa der Iran, Ägypten und Saudi-Arabien, aber selbst die USA und die EU. Die ganze Nahost-Region ist derzeit ein Pulverfass, man braucht dringend eine großflächige Deeskalation. Mein hoffnungsvoller Eindruck ist aber, dass momentan keine Partei ein ernsthaftes Interesse daran hat, dass ein kriegerischer Flächenbrand entfacht wird. 


Das Gespräch führte Stephan Johnen.