Im Gespräch bleiben

Was Angehörige tun können, wenn ihnen nahestehende Menschen Suizidgedanken äußern

Spricht ein Mensch über Suizidgedanken, heißt das für Angehörige, genau hinzuhören. Die Handreichung der Telefonseelsorge bietet Ansätze, wie das gehen kann. (c) www.pixabay.com
Spricht ein Mensch über Suizidgedanken, heißt das für Angehörige, genau hinzuhören. Die Handreichung der Telefonseelsorge bietet Ansätze, wie das gehen kann.
Datum:
6. Nov. 2018
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 45/2018 | Kathrin Albrecht
Statistisch gesehen, geschieht in Deutschland alle 53 Minuten ein Suizid, alle fünf Minuten ein Suizidversuch. Pro Jahr töten sich über 10 000 Menschen. Damit sterben jährlich doppelt so viele Menschen durch Suizid wie durch Verkehrsunfälle.

Zwischen 500 000 und eine Million Menschen waren vom Suizid eines ihnen nahestehenden Menschen betroffen. Oft trifft sie dieser Suizid völlig überraschend. Der Bundesverband der Telefonseelsorge hat in seinem diesjährigen Schwerpunkt besonders die Angehörigen in den Blick genommen.

„Warum habe ich das nicht mitbekommen?“ – solche und ähnliche Sätze fallen in Gesprächen mit Angehörigen von Menschen, die sich suizidiert haben, oft. Auch Frank Ertel, evangelischer Pfarrer und seit über 22 Jahren Seelsorger und Leiter der Telefonseelsorge Aachen-Eifel, kennt diese Sätze. In ihren Gesprächen haben es Telefonseelsorgerinnen und -seelsorger mit beiden Seiten zu tun. Äußert ein Mensch die Absicht, Suizid zu begehen, heiße es, ganz genau hinzuhören: „Niemand bringt sich gerne um. Menschen, die Suizidgedanken äußern, suchen zunächst einmal nach einer Lösung für ihr Leiden.“ Stehe die Lösung fest, in dem Fall, dass sie gehen, schlage die Stimmung um. Der Entschluss werde als eine Art Befreiung empfunden, die Stimmung würde oft euphorisch. Dann hörten Suizidale auch auf, über ihre Absichten zu sprechen. Ertel erinnert sich in diesem Zusammenhang an ein Gespräch, das er mit einer Frau hatte, deren Patenkind sich suizidiert hatte. „Sie erzählte mir, dass sie kurz vor dem Suizid noch ein richtig gutes Gespräch hatten. Sie hatte den Eindruck, es wäre besser. Der Suizid war für sie ein Schock.“

Zu ihrem diesjährigen Schwerpunkt hat der Bundesverband eine Handreichung für Angehörige in seinem Blog veröffentlicht. Neun Leitsätze sollen helfen, ein vertrauensvolles Umfeld zu schaffen, in dem Alternativen zum Suizid vorstellbar werden. Die oberste Regel dabei: Die Person, die von ihren Suizidgedanken berichtet, und die Gedanken, die dahinter liegen, ernst nehmen. Und das Problem nicht verharmlosen. Zuhören. Allgemeinplätze wie „Das wird schon wieder“ unbedingt vermeiden. „In solchen Sätzen schwingt schon eine Abwehrreaktion mit“, erklärt Frank Ertel. Suizidgefährdete sprächen von ihrer Absicht oft in Metaphern: „Ich kann nicht mehr“, „Ich halte es nicht mehr aus“ oder bei Jugendlichen auch „Ich habe keinen Bock mehr“ seien Schlüsselsätze. Da sei es wichtig, nicht in Abwehr zu gehen, sondern nachzufragen: „Was meinst du genau damit?“ – „Es ist eine Art Test“, beschreibt Frank Ertel die Situation. „Der Suizidgefährdete prüft: ,Kann ich mit dir darüber reden und wie weit gehst du da mit?‘“.

 

Konkret bleiben und nachfragen

Nicht jeder habe dazu die Kraft. Das weiß auch Frank Ertel und hält es für wichtig, dass eine Institution wie die Telefonseelsorge hier konkrete Angebote macht – für Suizidgefährdete und Angehörige. Er erlebt oft, dass Suizidgefährdete in der Beratung offener sprechen. „Angehörige sind mit im System. Suizidgedanken machen mich zu etwas Besonderem. Da ist es wichtig, konkret zu bleiben und nachzufragen: ,Wie hast du dir das denn vorgestellt? Wenn du das machst, dann stehen da deine Mutter oder dein Vater am Grab.‘ Viele Angehörige können die Vorstellung des Schrecklichen nicht ertragen. Sie sind mit ihrer eigenen Angst beschäftigt und nicht bei den Suizidgefährdeten.“

Die Leitgedanken sollen den Angehörigen auch dabei helfen, ihre eigenen Grenzen wahrzunehmen, welche Ressourcen und Netzwerke sie aktivieren können. Eine zu 100 Prozent verlässliche Methode, um einen Suizid abzuwenden, gibt es jedoch nicht. Jeder Fall sei im Zusammenhang der jeweiligen Lebensgeschichte zu sehen. Oft besteht auch ein enger Zusammenhang mit einer psychischen oder körperlichen Erkrankung. Beispielsweise im Fall einer bipolaren Störung. „Dahinter steht oft eine jahrelange Leidensgeschichte. Wie lebt man ein Leben, das immer im wahrsten Wortsinn ein Stück ,ver-rückt‘ ist von der Welt? Wenn meine Wahrnehmung ständig eine andere ist? Nicht nur die Suizidalen, sondern auch die Angehörigen empfinden den Suizid dann als Erlösung“, sagt Frank Ertel.

 

Junge und ältere Männer sind betroffen

In den vergangenen Jahren sei besonders bei zwei Kohorten ein leichter Anstieg von Suiziden festzustellen: Bei jungen Männern zwischen 14 und 16 Jahren und bei älteren Männern ab 75 Jahren. Warum das so ist, sei noch nicht erforscht. Die Telefonseelsorge setzt in ihrer Arbeit den Schwerpunkt der Suizidvermeidung. Dazu will man zukünftig die Angebote ausbauen. Vor allem in den neuen Medien setzt die Telefonseelsorge dabei Schwerpunkte. Derzeit wird eine App entwickelt, die Suizidgefährdeten vermitteln soll, dass ihr Leben einen Sinn hat. Auch das bestehende Chat-Angebot soll weiter ausgebaut werden. „Gerade Suizidale wählen Medien wie Chats aufgrund der reduzierten Kommunikation.“ Für sie, sagt Ertel, sei das ein Ausdruck der Selbstbestimmung, wie viel sie von sich preisgeben.

Falsch hingegen sei die Wahrnehmung, dass die Zahl der Suizide vor allem in der dunklen Jahreszeit zunehme. „Menschen, die alle Aggressionen gegen sich richten, sind davon völlig losgelöst. Für ihren Suizid brauchen sie alle Kraft, die sie aufbringen können.“ Reichen Gespräche nicht aus, stellt sich die Frage nach weiterreichender Hilfe. Das sei ein schwieriges Thema, meint Frank Ertel. Die Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung sei oft das letzte Mittel, um Menschen vor sich selbst zu schützen. Die Tatsache, dass Suizidgefährdete aus ihrem Leben herausgerissen sind, könne sich negativ auswirken. Denn das gewohnte Umfeld, auch der Arbeitsplatz, erfüllten eine gewisse Schutzfunktion.

Die Handreichung für Angehörige von Suizidgefährdeten ist unter www.telefonseelsorge-aachen.de abrufbar.

 

Info

Zur Verstärkung des Teams sucht die Telefonseelsorge Aachen-Eifel noch Interessierte, die sich ehrenamtlich als Telefonseelsorgerin oder -seelsorger engagieren möchten. Im Februar 2019 beginnt außerdem ein neuer Ausbildungskurs für ehrenamtliche Telefonseelsorgerinnen und -seelsorger. Angesprochen sind Menschen, die neugierig sind auf sich und andere, die etwas lernen und sich weiterentwickeln möchten. Weitere Informationen gibt es per E-Mail an: info@telefonseelsorge-aachen.de.

„Meine Zeit in deinen Händen“ – so ist ein Gedenkgottesdienst für Menschen überschrieben, die durch einen Suizid ihr Leben beendet haben. Der Gedenkgottesdienst findet am Mittwoch, 21. November, um 19 Uhr in der Citykirche St. Nikolaus, Großkölnstraße in Aachen, statt. Die Telefonseelsorge Aachen-Eifel lädt Angehörige sowie alle ein, die dieser Menschen gedenken möchten.

Mitarbeiter der Telefonseelsorge sind rund um die Uhr unter Tel. 08 00/11 01 11 oder 0800/1 11 02 22 für alle, die ihre Probleme teilen möchten, erreichbar.