»Ich will nicht hassen. Dieses Wort kenne ich nicht«

Holocaust-Überlebende Henriette Kretz über ihre Erlebnisse während der NS-Zeit und den Antisemitismus heute.

(c) Christian van t'Hoen
Datum:
7. Mai 2025
Von:
Aus der Kirchenzeitung, Ausgabe 17/2025 | Gerd Felder 

Die jüdische Holocaust-Überlebende Henriette Kretz besuchte kürzlich Aachen und berichtete als Zeitzeugin bei einer Podiumsdiskussion in der RWTH und mehreren Schulen über ihr Schicksal. Wie hat sie die NS-Zeit überlebt, wie betrachtet sie den wieder stark aufkeimenden Antisemitismus, und was empfiehlt sie für die künftige Erinnerungskultur?  

Frau Kretz, was war Ihr schlimmstes Erlebnis während der NS- und Kriegszeit?

Henriette Kretz: Ich war fast fünf Jahre alt, als die deutsche Wehrmacht Polen überfiel und meine Eltern mir klar machten, dass man vor den Deutschen Angst haben muss. Wir haben zunächst in der Nähe von Opatow gelebt und sind dann nach Lwiw (Lemberg) und anschließend in das nahe gelegene Sambor geflüchtet, wo wir 1941 zwangsweise ins Ghetto eingeliefert wurden. Ich habe in Verstecken gelebt, unter anderem in einem Kohlenkeller ohne Fenster, in dem meine Eltern und ich nur im Dunklen sitzen konnten und jedes Zeitgefühl verloren haben. Als der Feuerwehrmann, der uns im Keller versteckt hatte, uns schließlich auf den Dachboden desselben Hauses gebracht hat, war das für mich wie der Eingang zum Paradies, weil man sich dort bewegen konnte und frische Luft hatte. An einem schönen Sommerabend im Sommer 1943 aber wurden wir bei einer Säuberungsaktion gefunden und von deutschen Soldaten auf die Straße gebracht. Mein Vater forderte mich auf, zu fliehen, und ich bin um mein Leben gerannt, während in meinem Kopf alles leer war. Von weitem hörte ich Schüsse und wusste, dass ich von jetzt an keine Eltern mehr hatte und der einsamste Mensch auf diesem Planeten war. Das war das schlimmste Erlebnis meines ganzen Lebens.


Und was war Ihr schönstes Erlebnis in dieser furchtbaren Zeit?

Kretz: Nach der Ermordung meiner Eltern war ich eine Waise. Vorher hatten meine Eltern mich beschützt, aber jetzt war ich ganz allein. Ich musste dann die ganze Stadt durchqueren, um ein Waisenhaus zu finden — immer in der Gefahr, von den Deutschen als Jüdin entdeckt zu werden. Dann erreichte ich das katholische Waisenhaus von Sambor, und Schwester Celina sagte zu mir: „Kind, du bist hier in Sicherheit.“ Sie hat mein Leben gerettet. Das allerschönste Erlebnis war, als einen Monat später die Russen kamen und die Stadt befreiten. Ab da war ich frei und konnte in die Schule gehen, wurde dann auch von meinem Onkel Heinrich, dem außer mir einzigen Überlebenden meiner Familie, adoptiert.


Empfinden Sie heute Hass auf die Menschen, die Sie verfolgt und Ihre Eltern umgebracht haben?

Kretz: Nein, diese Vokabel habe ich aus meinem Wortschatz gestrichen. Ich war damals zu jung, um alles erkennen zu können, und als die Russen kamen, war ich Gott sei Dank schon nicht mehr in Lebensgefahr. Ich will nicht hassen, und man darf die Welt nicht darauf bauen, dass man hasst. Ich habe mich oft gefragt, was ich getan hätte, wenn ich zur damaligen Zeit als Christin in Deutschland zur Welt gekommen wäre, und habe keine Antwort darauf.

Henriette Kretz spricht als Überlebende vor vielen Schulklassen. Sie erzählt aus der Sicht eines Kindes. (c) Christian van t'Hoen
Henriette Kretz spricht als Überlebende vor vielen Schulklassen. Sie erzählt aus der Sicht eines Kindes.

Wie ist es Ihnen dann nach Ende des Krieges und der Verfolgung ergangen?

Kretz: Ich kam mit meinem Onkel nach Antwerpen und studierte Französisch und Kunstgeschichte. Schließlich bin ich im Jahr 1956 nach Israel gegangen, weil ich mir gedacht habe, dass dort die Heimstatt für alle Juden ist, und 2000 Jahre verfolgt zu werden, ist genug. Im Jahr 1969 bin ich aber doch nach Belgien zurückgegangen. Auch dort habe ich allerdings Antisemitismus erfahren, denn Antisemitismus ist überall. Er hat nie aufgehört, auch in Deutschland nicht, weil er gleichsam unter der Haut der Menschen ist. Wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, bricht er wieder aus. 


Und was kann man gegen den Antisemitismus tun, der seit dem 7. Oktober 2023, dem brutalen Hamas-Überfall auf Israel, in Deutschland und vielen anderen Ländern wieder so stark zunimmt?

Kretz: Leider nicht viel. Für mich bietet das Land Israel nach wie vor die einzige Möglichkeit für die Juden in der ganzen Welt, zu überleben. Allerdings muss man dort ein Einvernehmen mit den Palästinensern erzielen und mit ihnen friedlich zusammenleben. Das ist nicht leicht, geht aber nicht anders, denn man kann nicht eine ganze Gruppe von Menschen, die dort leben will, unterdrücken.

 

 

Der Antisemitismus heute macht Ihnen also Sorgen?

Kretz: Ja, aber noch mehr bin ich darüber besorgt, dass Israel derzeit eine Regierung hat, die aus dem Staat eine Diktatur machen will. Das macht mir Angst, und das Vorgehen im Gaza-Streifen halte ich für völlig falsch. Ein Großteil der israelischen Bevölkerung teilt meine Sorgen.


Sie hatten in Aachen ein großes Programm und haben insgesamt sechs Schulen besucht. Wie haben die Schüler auf die Begegnung mit Ihnen reagiert?

Kretz: Die Schulklassen sind sehr interessiert und haben auf mich und meine Erzählungen sehr gut reagiert. Viele hatten vorher keinen einzigen Juden kennengelernt, kennen das Judentum als Religion nicht und wissen wenig über den Massenmord an den Juden. Aber unterschätzen Sie Ihre jungen Leute nicht! Ich glaube, es spricht sie besonders an, dass ich aus der Sicht eines Kindes erzähle. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass sie ein bisschen erschreckt sind von dem, was in der NS-Zeit in deutschem Namen geschehen konnte, und sie aus der Begegnung mit mir etwas gelernt haben.


Haben die deutschen Schüler Schuldgefühle?

Kretz: Ja, die Jugend in Deutschland hat noch Schuldgefühle, aber ich halte das für falsch, denn was in Deutschland geschehen ist, kann überall geschehen. Das, was damals passiert ist, war nichts typisch Deutsches, sondern das Resultat von Extremismus und damit etwas, was für alle Diktaturen typisch ist. Insofern geht das Thema alle an, unabhängig von dem, woher sie kommen oder stammen. Da gibt es keinen großen Unterschied zwischen den deutschen Schülern ohne und mit Migrationshintergrund, zwischen Christen und Muslimen.


Sie arbeiten seit 24 Jahren mit dem Maximilian-Kolbe-Werk zusammen, das Zeitzeugen-Projekte an Schulen, in Jugendgruppen und Gemeinden veranstaltet. Wie kam es dazu, und warum machen Sie auch im hohen Alter noch auf so bewundernswerte Weise weiter?

Kretz: Ich bin Mitglied des polnischen Vereins „Kinder des Holocausts“, und im Jahr 2001 sind wir vom damaligen Bischof von Münster, Reinhard Lettmann, eingeladen und gefragt worden, ob wir als Zeitzeugen in die Schulen gehen könnten. Darüber hinaus hat ein Ehepaar, das dem Maximilian-Kolbe-Werk angehörte, mich gefragt, ob ich dort mitarbeiten könne. Für mich war das kein Problem, auch wenn das Kolbe-Werk katholisch geprägt ist und ich Jüdin bin, denn Religion ist für mich eine ganz persönliche Sache. Ich mache beim Zeitzeugen-Programm immer noch mit, weil die Ursache für Krieg und Verfolgung damals eine Diktatur war. Diktaturen, die Menschen verschiedener Herkunft und Religion ausgrenzen, sind immer gefährlich und gibt es heute immer noch. Wir informieren deshalb die Jugend, damit sie weiß, was damals geschehen ist, und damit sich das nicht wiederholt. 


Noch dürfen die jungen Leute und wir alle Ihnen, den Zeitzeugen, begegnen, und Ihre Schilderungen des Holocausts erleben. Aber wie soll Ihrer Meinung nach die Erinnerungskultur aussehen, wenn Sie alle einmal nicht mehr leben werden?

Kretz: Das wird ohne Zweifel schwieriger werden, denn das unmittelbare Zeugnis ist nicht so leicht zu ersetzen. Deshalb ist es die große Frage, wie es gelingen kann, die Erinnerungskultur und das lebendige Gedenken an den Holocaust aufrechtzuerhalten. Viel kommt auf den Geschichtsunterricht in den Schulen an, der nicht langweilig und dröge sein und in dem die NS-Zeit nicht zu kurz kommen darf. 
Darüber hinaus gibt es die Gedenkstätten, die Arbeit mit Biographien und andere neue Formate, die helfen können, ein persönliches Weitererzählen zu ermöglichen. Im Bistum Mainz gibt es viele Ehrenamtliche, welche die Holocaust-Überlebenden gut persönlich kennengelernt haben und ihre Geschichten und Erlebnisse stellvertretend weitererzählen. Nicht zuletzt sind da in manchen Städten die Geschichtswerkstätten vor Ort, die viele neue Formen der Erinnerung erarbeiten. Lehrkräfte können zusammen mit den Jugendlichen verschiedene Projekte durchführen, zum Beispiel zu den Stolpersteinen, mit den Biographien der Zeitzeugen arbeiten und auch Gedenkstätten besuchen. 

Zur Person

Auf ihrer Flucht fand die Jüdin Henriette Kretz ein katholisches Weisenhaus in Sambor. Die Schwestern dort retteten ihr Leben.  Kurz darauf wird die Stadt befreit. Henriette Kretz ist frei, ihr Onkel adoptiert sie. (c) Christian van t'Hoen
Auf ihrer Flucht fand die Jüdin Henriette Kretz ein katholisches Weisenhaus in Sambor. Die Schwestern dort retteten ihr Leben. Kurz darauf wird die Stadt befreit. Henriette Kretz ist frei, ihr Onkel adoptiert sie.

Henriette Kretz wurde am 26. Oktober 1934 als Kind jüdischer Eltern in Stanisławów, Polen (heute Ukraine) geboren. Nach dem deutschen Überfall auf Polen im Jahr 1939 floh die Familie nach Lemberg, später nach Sambor, in Ostpolen. 1941 wurde die Familie in ein Zwangsghetto eingewiesen. Sie überlebte die Judenverfolgung in vielen Verstecken. Als ihre Eltern wurden, gelang ihr die Flucht. Sie überlebte den Holocaust. Sie ist Mitglied des polnischen Vereins Kinder des Holocaust und ist für das Maximilian-Kolbe-Werk aktiv. 2020 erhielt sie für ihr Engagement als Zeitzeugin das Verdienstkreuz 1. Klasse.