Was hat der Fußball-Weltverband von der katholischen Kirche gelernt? War Diego Maradonas entscheidendes WM-Tor gegen England göttliche Intervention, und ist Fußball eine Religion? Dies sind nur einige der Fragen, auf die Bibelwissenschaftler Simone Paganini im Interview mit der KirchenZeitung Antworten hat.
Herr Paganini, ist Fußball eine Religion?
Paganini: Klar! Es gibt nicht nur eine Definition für Religion – und gleich mehrere passen. Religion kann als ein System definiert werden mit klaren Werten und Regeln – das passt zum Fußball. Religion und Fußball haben beide auch eine praktische Dimension: Sie führen Menschen zusammen, schaffen Gemeinschaften. Es gibt zudem eine spirituelle Dimension. Erkenntnisse der Hirnforschung zeigen: Sex und Gebet stimulieren die gleichen Areale im Gehirn. Ob Mystik oder Jubel nach einem Fußballtor im Stadion: Beides kann Orgasmus-Qualitäten haben.
Wo ist da noch Platz für Gott auf dem Platz?
Paganini: Religion hat etwas mit Transzendenz zu tun, also mit Gott. Als Bibelwissenschaftler ist die Bibel für mich nicht nur ein Glaubensbuch, sondern auch ein Buch, in dem Menschen vom Glauben erzählen. Religionshistorisch gesehen, war Jesus ein Mensch, der zu Gott erklärt worden ist. Die Kirche hat dafür 300 Jahre gebraucht. Auch auf dem Fußballplatz gibt es viel Transzendenz, nehmen wir Diego Maradona. Bei der WM in Mexiko hat der „D10S“ gegen England das entscheidende Tor geschossen – mit der Hand, mit der Hand Gottes. Es entstand eine eigene Kirche, in Argentinien gibt es bis heute Menschen, die Maradona verehren.
Fußball ist also eine Art Götze?
Paganini: Kritiker sehen dort Gottlosigkeit. Man kann aber auch darin die Überheblichkeit einer Gruppierung sehen, die sagt: Wir haben den richtigen Gott, die anderen nicht. Diese Denkweise ist typisch für monotheistische Religionen. Ich glaube, Fußball hat eine heilbringende Dimension, eine Erlösungsfunktion. Da sind wir wieder bei der Idee der Transzendenz. Für manche Religionen gibt es Transzendenz in eine Welt danach. Bei anderen Religionen ist eine Erlösung in dieser Welt möglich. Fußball bietet so eine Erlösung, wenn die eigene Mannschaft gewinnt. Das Theater, das Fans dann machen, das ist eine Form von Erlösung, das Realisieren des eigenen Wesens. Wenn sich Fußball als religiöses Phänomen auf vielen Ebenen auslebt, dann bietet Fußball Erlösung. Mit Blick auf die Liturgie hat der Sport nicht nur mit Religion, sondern mit Kirche zu tun, ganz besonders mit der katholischen Kirche.
Weil Fußball zelebriert wird?
Paganini: Fußball ist eine Liturgie. Es gibt Rituale, eine besondere Kleidung, eine Aufstellung. Das einzige, was man unbedingt braucht, damit ein Spiel ausgeführt werden kann, ist aber der Schiedsrichter. Ohne Schiri gibt es keinen Fußball. Man braucht diese Person, die die Kirche Priester nennt. Beim Fußball und in der Kirche geht es dabei um eine Sache: Kontrolle. Ich verschaffe Regeln ihre Geltung. Das ist auch die Rolle der Kirche in Religion. Kirche als Struktur ist nicht nur Mittler der Religion, sondern eine Kontroll-instanz, die dafür sorgt, dass ethische Normen eingehalten werden. Wie in der Kirche gibt es auch beim Fußball klare dogmatische Regeln, die an einem Ort von einem kleinen Kreis hergestellt werden. Diese Regeln gelten auf der ganzen Welt. Für die Angestellten gelten die gleichen Regeln, die Liturgie. Es gibt vielleicht einige Variationen, eine Ausformung von Religion. Ich finde diesen Gedanken faszinierend.
Sie fasziniert der Gedanke, dass Kirche und Fußball gleich funktionieren?
Paganini: Was ist die Funktion von Kirche innerhalb der Gesellschaft? Sie schafft oder will Gemeinschaft schaffen. Die Kirche hat mit ihren Regeln Ordnung in das Leben der Menschen und in die Gesellschaft gebracht. Nur verliert Kirche seit Jahrzehnten an gesellschaftlicher Relevanz.
Eine Rolle, die der Fußball übernimmt?
Paganini: Ich kenne genug Menschen, die für den Sonntag leben. Nicht, weil sie zur Kirche gehen. Viele Menschen leben auf das Spiel hin. Es gibt Prozessionen mit den Fahnen und den Farben bis zum Stadion, wo der Gottesdienst stattfindet. Es gibt auf der strukturellen Ebene viele solcher Parallelen. Vor dem Zweiten Weltkrieg interessierte sich fast niemand für Fußball. Aber andere Strukturen sind weggefallen, Politik und Religion spielen (fast) keine Rolle mehr. Das Religiöse im Leben lässt sich jedoch nicht wegdenken. Politik war früher auch eine Art Religion. Fußball und die Treue zu einem Verein geben meinem Leben einen Sinn, dem Alltag Struktur. Einer der wesentlichen Aspekte von Religion ist es, dass man sich nicht jedes Mal die gleichen Fragen stellen muss, wenn ich mich einer Religion angeschlossen habe. Das ist beim Fußball noch so, hier gibt es nach wie vor eine große Treue zum Verein.
Wurden diese Parallelen von Fußball und Religion/Kirche einmal wissenschaftlich untersucht?
Paganini: Es gibt kaum Literatur, aber es würde sich lohnen. Ich kenne eine Masterarbeit über „Sport und Religion“. Da geht es um Rituale, Loyalität und Symbole. Ich fände eine Arbeit zur folgenden Fragestellung spannend: Wie funktioniert Fußball als Weltverband, wie funktioniert die Kirche als Weltverband? Neben diesen beiden kenne ich weltweit keine Organisationen, die für Milliarden Menschen die Regeln festlegen. Und der Fußball hat viel von der katholischen Kirche gelernt.
Können Sie Beispiele nennen?
Paganini: Es beginnt mit der Nachwuchsarbeit. Der Fußball lebt davon, die Kirche auch. Auch bei Fundraising und Finanzen funktionieren beide auf eine sehr ähnliche Weise. Was die Vereine immer mehr für sich entdecken, ist das Merchandising von Immobilien. Stadien werden 90 Minuten für ein Spiel benötigt, danach stehen sie meist leer. Ihnen kommt mittlerweile aber die Funktion einer Kathedrale in der frühen Neuzeit zu: Neben den Gottesdiensten gab es weitere Zusammenkünfte, Märkte, Kirmes, Ereignisse, die mit dem Ort verbunden sind. Kirche lebt zum Teil von Spenden und in Deutschland von Steuereinnahmen, aber die Kirche in Europa lebt vor allem von Immobilien. Viele Altstädte in der Welt (beispielsweise Köln, München, Wien und Mailand) stehen auf einem Pachtgrund, der der Kirche gehört. Fußball, so wie wir ihn heute spielen, ist relativ neu, erst 100 Jahre alt. Die Welt entwickelt sich brutal schnell, der Fußball wurde zum Massenphänomen, zum Wirtschaftsphänomen. Und er besetzt immer mehr Felder, die einst mit der Religion verbunden waren.
Was macht den Reiz des Fußballs aus?
Paganini: Fußball erlaubt einen Freiraum, in dem Emotionen frei gelebt werden können. Positive Emotionen, aber auch negative. Fans lassen den Frust raus, gegen den Feind, vor allem gegen den Schiedsrichter. Das ist auch eine Funktion von Religion. Es ist kein Wunder, dass religiöse Bewegungen sich am besten entwickeln, wenn es den Menschen schlecht geht. In Afrika, Lateinamerika und Asien floriert die katholische Kirche. Es gibt große Zuwächse in armen Ländern, wo die Menschen ein Ventil suchen. So ist auch Fußball. Da bleibst du, weil du Emotionen ausleben kannst. Die einzigen religiösen Bewegungen, die in Europa Nachwuchs haben, sind sogenannte charismatische Bewegungen. Hier darf im Gottesdienst vor Freude geschrien
und Gott gelobt werden, hier wird sich umarmt. Zu einem langweiligen Gottesdienst geht man nur aus Pflichtgefühl.
Letzte Frage, wenn auch nicht ganz ernstgemeint: In welchem Verein wäre Jesus Mitglied gewesen?
Paganini: Ich glaube, Jesus wäre Schiri geworden. Und abseits seiner Einsätze ist er natürlich BVB-Fan.
Das Gespräch führte Stephan Johnen.
Simone Paganini ist AC-Milan-Fan und Professor an der RWTH Aachen University (Lehr- und Forschungsgebiet Biblische Theologie). Der 51-Jährige ist verheiratet und hat drei Kinder. Als Jugendlicher und während seiner Studienzeit stand er als Schiedsrichter auf dem Fußballplatz.