Höhen und Tiefen

In der Citykirche ist ein besonderer Corona-Gedenkort entstanden

Zu den Seiten abgetrennt durch unzählige  Fäden richtet sich der Blick auf das imaginäre  Corona-Massiv, dessen Gipfel gen Decke strebt. (c) Andrea Thomas
Zu den Seiten abgetrennt durch unzählige Fäden richtet sich der Blick auf das imaginäre Corona-Massiv, dessen Gipfel gen Decke strebt.
Datum:
26. Mai 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 21/2021

Was eine Pandemie mit Menschen macht, in welchen emotionalen Wirbelsturm sie stürzen kann, erleben wir seit über einem Jahr. In Aachen gibt es nun einen Ort, an den Menschen alle diese Gefühle tragen können: die Trauer um den geliebten Menschen, den sie verloren und nicht beglei-ten konnten, die Sorgen um andere, die vielfältigen gesundheitlichen, sozialen und existenziellen Belastungen, die Hilflosigkeit, Wut und Verzweiflung. Der Corona-
Gedenkort gibt Raum zum Innehalten und Erinnern – und Hoffnung schöpfen.

Wer seine Gedanken und Gefühle nicht offen teilen möchte, darf dies auch verdeckt tun. (c) Andrea Thomas
Wer seine Gedanken und Gefühle nicht offen teilen möchte, darf dies auch verdeckt tun.

Für Vera Sous ist die Corona-Pandemie ein Bergmassiv mit Höhen und Tiefen. Der Gipfel ist das Ziel, ihn zu erklimmen, heißt, die Pandemie zu bezwingen. Der Weg ist beschwerlich, oft geht es nur langsam voran oder er stellt sich als Sackgasse heraus, manchmal ist der Weg nicht klar zu erkennen, es droht der Absturz. Doch der Weg ist da, ebenso wie der ersehnte Gipfel und das Ziel, gesund zu bleiben oder wieder gesund zu werden. Und wir sind nicht allein unterwegs, auch wenn es sich gelegentlich so anfühlt.

All das spiegelt sich in dem „Corona-Massiv – von Tiefen und Höhen“ wider, mit dem die Aachener Künstlerin die Ausschreibung für den Corona-Gedenkort in der Aachener Citykirche St. Nikolaus gewonnen hat. Seit dem 7. Mai steht die Installation in einem der Gewölbebögen des Kirchenschiffs. Umgesetzt hat Vera Sous das Kunstwerk gemeinsam mit Mitarbeiterinnen aus den Qualifizierungswerkstätten von „Spectrum“ im Rheinischen Verein in Aachen und Eschweiler-Weisweiler. An der Kopfwand streckt sich das Halbrelief einer künstlichen Felswand zur Decke, die sichtbare Spitze des imaginären Corona-Massivs. Die Seiten werden durch unzählige unterschiedlich lange, weiße Fäden begrenzt, die an einem elastischen Netz angebracht und unterhalb des Deckengewölbes verspannt sind. Ziehende Wolken, die darauf projiziert werden, bringen Bewegung und nehmen dem Massiv etwas von seiner Schwere. An der Felswand mit weiß-neongelbem Farbverlauf gibt es runde Klettverschlüsse und hölzerne Dübel, an denen die Besucher Karten und Erinnerungsstücke befestigen können.

 

Citykirche als spiritueller Ort, an dem jeder willkommen ist

Auf den Karten soll jeder festhalten können, was ihn bewegt: Wünsche, Trauer, Geheimnisse, Ratschläge, Trost … Ein Angebot, von dem viele Besucher seit der Eröffnung bereits Gebrauch gemacht haben. Die Wand zieren schon etliche der zu diesem Zweck vorbereiteten ausliegenden Karten. Mal hängen sie so, dass andere lesen können, was dort steht, mal so, dass die beschriebene Seite verdeckt ist. „Ein bisschen wie bei der Klagemauer, in die man seine Zettel auch anonym steckt“, sagt Timotheus Eller, katholischer Pfarrer an der ökumenischen Citykirche. Er findet wichtig, dass Gedanken geteilt werden können, es aber nicht müssen.

Die Möglichkeit zur Interaktion war eines der Kriterien, das die Jury (neben Pfarrer Eller seine evangelische Kollegin Sylvia Engels, Lydia Kroll vom Ludwig-Forum, Patricia Jasmin Graf, die am Projekt „Hotel total“ in der Elisabethkirche mitgewirkt hat, sowie Joshua Wirtz, der an der Projektentwicklung zur Gestaltung des Büchel beteiligt ist) festgelegt hatte. „Wichtig war uns auch, dass der Entwurf eine künstlerische Qualität hat, weltanschaulich neutral ist und den vorgegebenen Raum gut ausnutzt, der nun einmal begrenzt ist. Es sollte heimelig sein, man soll sich unbeobachtet fühlen, aber nicht eingepfercht“, erläutert Timotheus Eller. Alles Dinge, die die Jury an dem nun umgesetzten Corona-Massiv sofort überzeugt hätte. Dass über die Umsetzung mit dem Rheinischen Verein auch noch der soziale Bezug und Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit mit einfließen, ist ein zusätzlicher Punkt. Das Berg-Motiv könne jeder nachvollziehen und finde für sich persönlich Anknüpfungspunkte. Für Eller ist der Gedenkort nicht nur ein Ort für Trauer, sondern auch ein Trost-Ort, wo jeder seinen Schmerz und die von Corona verursachten Brüche im Leben zurücklassen könne, aber wo auch Hoffnung spürbar wird und entstehen kann: „Jeder Gipfel kann auch bezwungen werden.“

Ein Gedanke, in dem sich alle in Aachen vertretenen und im „Dialog der Religionen“ miteinander verbundenen Religionen und Glaubensgemeinschaften wiederfinden können. Das wurde auch in der kleinen interreligiösen Feier deutlich, mit der der Corona-Gedenkort eröffnet worden ist. Trost sei ein Begriff, führt Timotheus Eller aus, den es in allen Religionen gebe und der alle Menschen verbinde, egal was und ob sie glauben. Etwas, dass wichtig ist, um als Individuum, aber auch als Gesellschaft gut durch diese Pandemie zu kommen und heilen zu können.

Die Idee zu einem solchen Gedenkort für Aachen ist zeitgleich an zwei Orten in der Stadt entstanden, zum einen im Stadtrat und zum anderen in der Innenstadtpfarrei „Franziska von Aachen“, wo Gemeindereferent Jürgen Maubach sich das Thema zu eigen gemacht und vorangetrieben hat. So kam es, dass es nur knapp zwei Monate vom ersten Gedanken bis zur Fertigstellung gedauert hat, was schon beachtlich sei, wie Timotheus Eller unterstreicht. Auch über die ökumenische Citykirche als Ort habe schnell Einigkeit bestanden. „Wir haben offensichtlich den Ruf: ,Da kann man hingehen‘, obwohl wir eine christliche Kirche sind.“ Getragen wird der Gedenkort von der Citykirche und dem Verein „Kirche für die Stadt“, der Pfarrei „Franziska von Aachen“ und deren „Zeitfenster“-Gemeinde, der evangelischen Gemeinde Aachen und dem evangelischen Kirchenkreis Aachen. Oberbürgermeisterin Sybille Keupen unterstützt das Projekt institutionell. Angelegt ist der Corona-Gedenkort als zeitlich begrenzte Installation. Wie lange „zeitlich begrenzt“ sein wird, ist unklar. „Solange, wie dieser Ort gebraucht wird“, fasst Timotheus Eller es zusammen.