Hingucken und zuschauen ist noch keine Hilfe

Jugendliche starten ein Projekt zum Thema Zivilcourage. Das Ergebnis könnte als ernüchternd bezeichnet werden. Das wollen die Macher des Films „Lass Deine Taten sprechen“ so nicht stehen lassen

(c) Stephan Johnen
Datum:
5. Juni 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 23/2024 | Stephan Johnen

Das streitende Paar war nicht zu übersehen – und vor allem nicht zu überhören. Mitten in der Innenstadt flogen verbal die Fetzen. Menschen, die an den Tischen der Restaurants sitzen, schauen zum Teil zu, andere schauen weg. Erst als der Mann nach langer verbaler Aggression zum Schlag ausholt, gibt es eine Reaktion. Eine Passantin eilt zu Hilfe. Wie sich später herausstellt, hat sie selbst die Hilflosigkeit erfahren, Opfer von Gewalt zu werden. Gewalt gibt es an diesem Tag in Düren noch oft zu sehen – Hilfsbereitschaft hingegen kaum. Kein einziger Notruf erreicht die Polizei. 

Kümmern wir uns eigentlich um das, was in der Gesellschaft los ist? Wie steht es um Zivilcourage? Diese Fragen standen im Mittelpunkt einer Diskussion unter Jugendlichen. Eine Diskussion, die etwas auslösen sollte, das sich zur Kampagne für Zivilcourage entwickelt hat. Um herauszufinden, wie weit die Gesellschaft Vorbild sein und klare Haltung zu unrechten Taten in der Öffentlichkeit zeigen kann, ließen die Jugendlichen mit dem Arbeitskreis Jugendschutz einen Versuchsballon steigen: Sie entwickelten Szenarien von Übergriffen, Mobbing und Gewalt, die in der belebten Innenstadt spielten und von Kameras aufgezeichnet wurden.

Zum Arbeitskreis gehören neben Vertreterinnen und Vertretern vieler Jugendtreffs auch die Drogen- und Suchtberatungsstelle, das Kriminalkommissariat Opferschutz und Vorbeugung der Kreispolizeibehörde, die Mobile Jugendarbeit und Vertreter vom Arbeitskreis Schulsozialarbeit Stadt und Kreis Düren.

 

Vom Gruppenfoto zur Kissenschlacht sind es nur wenige Sekunden. Gefahr bestand ganz offensichtlich aber keine. Im Experiment auf der Straße haben die Macher des Films „Lass Deine Taten sprechen“ aber erlebt, dass selbst bei eskalierenden Situationen ganz oft keine Hilfe absehbar war. Ein ernüchterndes Ergebnis. (c) Stephan Johnen
Vom Gruppenfoto zur Kissenschlacht sind es nur wenige Sekunden. Gefahr bestand ganz offensichtlich aber keine. Im Experiment auf der Straße haben die Macher des Films „Lass Deine Taten sprechen“ aber erlebt, dass selbst bei eskalierenden Situationen ganz oft keine Hilfe absehbar war. Ein ernüchterndes Ergebnis.

„Die Idee hatten die Jugendlichen, die auch hinter der Kamera viel geholfen haben“, sagt Marc Schmitz, Leiter des Jugendtreffs im Papst-Johannes-Haus der Pfarrei St. Lukas. Um die „Szenen“ realistisch wirken zu lassen, haben die Projektteilnehmer nicht nur Drehbücher geschrieben – Unterstützung erhielten sie von der Theaterpädagogin Marion Kaeseler, die mit den Jugendlichen trainierte. Auch die Dürener Polizei war eingeweiht – und hätte bei Notrufen die Anrufer darüber informiert, dass es sich um einen falschen Alarm handelt.

Wenn denn Anrufe gekommen wären. „Ich war selbst erschrocken darüber, wie hoffnungslos und verzweifelt ich mich gefühlt habe. Ich habe selbst vor Angst gezittert“, blickt Lisa Moll auf den Drehtag zurück. „Wir wussten, es war nicht echt. Aber wenn auch dann niemand hilft, wenn es echt ist, muss es sich noch schlimmer anfühlen“, sagt Jan Broichgans, der den Part des Aggressors in der Eingangsszene übernommen hatte. 
„Wir haben schon eine krasse Show geboten“, bringt es Dia Demir auf den Punkt.

 

Mehrfach. Als Anführerin einer Mädchengang schickanierte sie auf dem Rathausvorplatz einen Jugendlichen. Sie beleidigte ihn, stieß ihn mehrfach zu Boden. An einer anderen Stelle der Stadt wurde ein Handtaschendiebstahl simuliert – auch hier mehrfach, mit längeren Pausen dazwischen. Immerhin: Während vor dem Rathaus die Zuschauer vor allem zuschauten, reagierte beim Diebstahl ein Fahrradfahrer, der dem vermeintlichen Dieb hinterherbrauste. Im Nachhinein auf das Geschehene und Gesehene angesprochen, gaben die meisten Menschen zu Protokoll, gesehen haben zu wollen, dass alles gestellt war. „Wir sind aus unserer Perspektive einer Menge Gleichgültigkeit begegnet“, hofft auch der angehende Erzieher Jan Cäsar, selbst nie in eine Notsituation zu kommen. Es gebe gute Argumente, sich beispielsweise nicht in eine handgreifliche Situation einzumischen – aber das Mindestmaß wäre der Ruf nach Hilfe gewesen.

Die Erlebnisse und Ergebnisse des Tages gibt es nun als Film – der am 12. Juni öffentlich gezeigt wird und eine über die Grenzen der Stadt gehende Auseinandersetzung mit dem Thema Zivilcourage anstoßen soll. Die Situationen, die zu sehen sind, sehen alles andere als gestellt aus. Die Mimik der Zuschauer ist nicht mehr zu erkennen, da die Gesichter verpixelt wurden. Erkennbar ist aber, dass sehr oft gar nichts passiert, obwohl die Situationen eskalieren.

„Mobbing und Aggression sind ein Thema, das fängt bei den Kleinsten an“, berichtet Arbeitskreismitglied Betti Lenz aus der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Zugucken, weggucken oder schlimmstenfalls mitmachen, wenn jemand drangsaliert wird – kein Einzelfall. „Viele denken sich: Das geht mich doch nichts an. Unsere Gesellschaft ist anonymer geworden“, sagt Marc Schmitz. Sicherlich spiele auch Angst eine Rolle. Die Angst, schnell zwischen die Fronten zu geraten. Die Angst, dass einem sonst niemand zur Seite steht. „Wir stellen fest, dass auch die Gewaltbereitschaft viel größer geworden ist. Darauf haben wir noch keine Lösung. Aber wir möchten auch nicht solche Verhältnisse haben oder hinnehmen“, erklärt Schmitz, warum allen die Kampagne so wichtig ist.

Zeitgleich zum Film entstanden Kärtchen mit Handlungsempfehlungen, was in einer Notsituation gemacht werden kann, es gibt ein Zivilcourage-Quiz. Die Premiere des Film ist nicht nur ein Dankeschön an alle Akteure, sondern auch eine Einladung an weitere Mitstreiterinnen und Mitstreiter, dem Wegschauen die Rote Karte zu zeigen. „Wir möchten das Thema Zivilcourage viral machen“, sagt Marc Schmitz.

Aufführung im Kino

Der aus dem Zivilcourage-Projekt entstandene Kurzfilm „Lass Deine Taten sprechen!“ wird am Mittwoch, 12. Juni, um 18 Uhr im Dürener Kino „Das Lumen“ gezeigt. Der Eintritt ist frei, Einlass ist ab 17.45 Uhr, das Mindestalter ist zwölf Jahre. Der Arbeitskreis Jugendschutz bittet aus organisatorischen Gründen um Anmeldung per E-Mail an: marc-schmitz@
st-lukas.org, da die Platzanzahl begrenzt ist. Anschließend gibt es eine Diskussionsrunde zum Thema.
Der Arbeitskreis Jugendschutz stellt den Film auch gerne anderen Einrichtungen und Initiativen zur Verfügung und bietet an, Vorführungen beispielsweise an Schulen zu ermöglichen. Auch in den sozialen Netzwerken soll ab dem 12. Juni eine Kampagne zum Thema Zivilcourage gestartet werden. (Instagram: 
arbeitskreis_jugendschutz).