Es ist eine Stimmung wie in einem Bienenschwarm: Ständig kommen Menschen durch die Türe an der Rathausstraße 7 in Inden. Mit großem „Hallo“ in den unterschiedlichsten Sprachen finden die Begrüßungen statt, begleitet von Schulterklo- pfen und Umarmungen. Vorweihnachtszeit im Treffpunkt des Vereins Neue Horizonte.
Um den Tisch sitzen an diesem Abend Busra Coslan, Sonbul Qayomi, Samad Soian, Murlan und Jeanny Steffan – fünf Menschen zwischen 16 und 40 Jahren, alle unterschiedlicher Herkunft und Kultur. Was sie gemeinsam haben: Sie kommen gerne hierher, genießen die Gemeinschaft, den Austausch. Die etwas naseweise zehnjährige Kira kommt dazu und antwortet auf die Frage, warum dieser Raum ein so besonderer ist: „Wir helfen uns hier alle gegenseitig. Das ist schön!“ Es ist spürbar ein angstfreier Raum mit dem Titel „Begegnungsstätte AnziehBar“, in dem das Lächeln vorherrscht – ein Ort der Begegnung und Unterstützung.
Jeanny Steffan suchte eigentlich nur eine Möglichkeit, ihr Taschengeld aufzubessern. Die 16-jährige Gesamtschülerin wollte Nachhilfe in Mathe und Naturwissenschaften geben. Schnell holte sie die Realität ein: Sprache ist es, was im Mittelpunkt steht. Für Jeanny und Murlan, der mit 26 Jahren aus Aserbaidschan gekommen ist, ist die Begegnungsstätte vor allem ein Ort des Lernens.
Das Lachen, gemeinsames Kochen und Geselligkeit verbunden mit der Möglichkeit, die deutsche Sprache zu lernen, sind es, die Busra Coslar hier findet. Regelmäßig besucht sie das Frauen-Café, das in der Begegnungsstätte angeboten wird. Die 32-Jährige ist mit ihren Töchtern aus der Türkei geflohen, weil sie und ihr Mann wegen ihrer Ablehnung der Staatsführung Erdogans politisch verfolgt wurden. Sechs Jahre habe ihr Mann aus diesem Grund in Haft verbracht. Inzwischen haben sie in der Container-Anlage in Inden eine Unterkunft gefunden. „Sie fühlt sich hier sicher und wohl“, übersetzt die 18-jährige Afghanin Sonbul Qayomi für sie. Die Schülerin am Berufskolleg Jülich ist vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen, spricht gut Deutsch und ist in der „AnziehBar“ fest eingebunden. Sie gibt Nachhilfe und bietet nicht nur als Dolmetscherin ihre Dienste an, sondern hilft auch bei der Integration.
Neue-Horizonte-Vorsitzender Reiner Lövenich und eine Sozialarbeiterin hätten sie nach ihrer Ankunft sofort besucht, ihr gezeigt, wo das Jugendheim „Quo vadis“ ist, und ihr viele Möglichkeiten eröffnet. „Heute haben wir ein eigenes Heim und kennen nette Menschen, die uns helfen.“ Im Deutschen gibt es dafür das Wort „Netzwerk“.
Das pflegt die 18-Jährige in überdurchschnittlichem Maße: Neben ihrem Engagement für Geflüchtete und ihrer Schulausbildung hat sie einen Nebenjob bei einem Discounter. Zusätzlich ist sie politisch im Jugendrat der Gemeinde Inden aktiv. „Ich möchte nicht vergessen, wie es für mich früher war“, sagt Sonbul. Ihr Einsatz hat ein Ziel. „Ich möchte helfen, dass es in meinem Land besser wird“, sagt sie mit Blick in die Zukunft. „Dort dürfen Mädchen nicht zur Schule gehen. Sie werden eingesperrt. Ich kann das nicht vergessen!“ Und schon ist eine Diskussion mit Samad Soian im Gange. Er lächelt Sonbul offen und freundlich an. Religion sei, so sagt der zum Christentum Konvertierte, oft ein Grund, Frauen geringer zu schätzen. „Danke, dass Du mir das gesagt hast“, erwidert Sonbul höflich und sagt mit Nachdruck: „Hier ist ein Ort, an dem es keinen Rassismus gibt.“
Die Hilfe und das Miteinander kommen aus den Nutznießenden dieses Begegnungszentrums heraus. Ob Lernförderung ab Klasse 5, die mit sieben Unterstützern für 25 Kinder angeboten wird, das genannte Frauencafé, Sprachkurse oder die Second-Hand-Börse samstags, die dem Raum den Titel „AnziehBar“ gab. „Am meisten gefragt sind der Dienstagmorgen und Donnerstagabend – das sind die Service-Zeiten, in denen die Menschen Unterstützung beim Ausfüllen von behördlichen Unterlagen oder Formularen bekommen“, erzählt Reiner Lövenich, der von Anfang an federführend mit dabei ist. Der Verein Neue Horizonte, das ist ihm wichtig, bietet lediglich den Raum und schafft Gelegenheiten. „Was der Ort für mich bedeutet? Es ist ein Treff. Ein Ort, an dem man, wann immer man kommt, etwas Neues erfährt. Ein Raum, um sich selbst in Frage zu stellen und neue Blickwinkel einzunehmen.“
Dafür sei Inden ein besonders guter und richtiger Standort. Hier träfen Menschen aufeinander, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat verloren haben. Umgesiedelte. „Es verbindet sie die gleiche Geschichte“, sagt der ehemalige Jugendbeauftragte im Bistum Aachen, der heute hauptberuflich bei der Franziskus-Stiftung in Vossenack für die Betreuung und Förderung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge im Einsatz ist. Wichtig sei, dass die Menschen über gemeinsame Themen zusammenfinden würden. Ausschließlich durch Geselligkeit würde das nicht gelingen. Darum sei neben der
AnziehBar sozialer Wohnraum ein ähnlich wichtiges Thema.
Näheres zum Verein, der seine Angebote über Spendengelder finanziert, unter www.neue-horizonte-ev.de.