„Erinnerungskultur verändert sich ständig“, sagt Dr. Helmut Rönz. Er leitet das Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte des Landschaftsverbands Rheinland (LVR). Und erinnern ist auch ohne Zeitzeugen möglich, wie er im Interview mit der KirchenZeitung betont.
Was bleibt, wenn die letzten Zeitzeugen verstorben sind?
Rönz: Ich sehe zwei Dimensionen der Zeitzeugenschaft. Zeitzeugen helfen Erinnerung an Entscheidungen, die tragisch oder gar verbrecherisch waren, in der Gesellschaft wachzuhalten. Insofern sie auch noch Handelnde in Gesellschaft und Politik waren/sind, arbeiten sie oft aus ihrem Erfahrungsschatz heraus. Zar Alexander I. galt, vor dem Hintergrund der Schrecken der Napoleonischen Kriege, als vehementer Friedensbefürworter seiner Zeit. Dies galt auch in gewisser Weise für Metternich, der mit dem Aufbau eines gefestigten internationalen Staatensystems den Frieden stabilisieren wollte. Mit dem Aussterben dieser Generationen änderte sich wieder der Blick auf Krieg als Möglichkeit politischen Handelns. Dies war ab zirka 1850 der Fall. Zeitzeugen stabilisieren also die Gesellschaft und mindern Gefahren.
Für den Historiker ist der Zeitzeuge oft eine methodische Herausforderung. Quellenkritisch ist eine Zeitzeugenaussage nur schwer einzuordnen, da sie zuweilen Zeitebenen vermischt und von einer „gefühlten Geschichte“ berichtet. Zeitzeugenberichte sind so einerseits wertvoll, wenn Historiker nicht an andere Quellen kommen, aber schwierig zu kontextualisieren, wenn eben solche Quellen fehlen oder wenn Schriftquellen den Aussagen widersprechen. Es gibt allerdings Bereiche wie etwa die Retterwiderstandsforschung, wo man, wenn die Rettung erfolgreich war, ohne Zeitzeugen nicht weiterkommt.
Wie lässt sich die Erinnerung wachhalten?
Rönz: Zu den großen Herausforderungen und Chancen für unser gegenwärtiges Erinnern zählt, dass man die Zugänge gerade für junge Menschen erleichtern muss. Zeitzeugen waren und sind ein so hohes Gut, da sie den Dingen ein Gesicht verleihen und damit Empathie fördern. Für viele Jugendliche ist es schwerer geworden, sich in die Dinge hineinzuversetzen. Es braucht heute mehr denn je Angebote, die zeigen: „Hey, das hat etwas mit mir zu tun.“ Das muss nicht zwangsläufig über Zeitzeugen laufen, häufig ist es schon ein örtlicher Bezug, der junge Menschen aufhorchen lässt und der dann zum Nachdenken anregt.
Lassen sich die Aussagen und Beschreibungen von Zeitzeugen überhaupt ersetzen?
Rönz: Die Spezifika von Zeitzeugenaussagen sind natürlich nicht ersetzbar. In der Geschichtswissenschaft gibt es für die NS-Zeit noch zahlreiche Quellen, die geborgen, gelesen, interpretiert und eingeordnet werden müssen. Schwieriger ist die Sicht auf die politischen und historischen Bildungsangebote. Hier muss man über neue Formen nachdenken. Möglicherweise digital wie das Zeitzeugenportal des Hauses der Geschichte, über Wissensportale, partizipative Angebote oder eben über analoge Formate wie Stolpersteine und Routen, die wiederum digitale Dimensionen erhalten müssten.
Wie wird sich die Erinnerungskultur insgesamt ändern?
Rönz: Erinnerungskultur ändert sich ständig und wird stets von folgenden Generationen historisiert. Insofern können Aussagen nur für die nächsten Jahre getroffen werden. Auch hier gilt, dass didaktische, partizipative und digitale Formate immer wichtiger werden.