Der Blick aus dem Wohnzimmerfenster bietet ländliche Idylle: grüne Wiesen, Obstbäume, morgens friedlich grasende Kühe vom benachbarten Bauernhof. In einem Winkel der kleinen Terrasse entwickelt ein Rhododendronbusch seine dunkelrosafarbene Blütenpracht. „Wenn das Wetter schön ist, setzten wir uns an die frische Luft“, freut sich Hans-Gerd Carabin (78). „Aber noch ist die kleine Treppe mit drei Stufen nicht sicher, wir brauchen ein starkes Geländer.“
Ehefrau Marianne (77) sitzt an ihrem Tischchen, schaut hinaus, ist nachdenklich. Zwei Schlaganfälle vor etwa einem Jahr haben sie körperlich stark eingeschränkt, das Sprachzentrum ist betroffen, sie hört aufmerksam zu, kann aber nur „Ja“ sowie „Nein“ antworten – und mit einem Lächeln, wenn etwas schön ist. Durch tapfere Reha-Übungen ist sie wieder in Bewegung gekommen, ein sechswöchiger Aufenthalt in einer Klinik in Dortmund hat dafür gesorgt, dass das Laufen am Stock und am Rollator klappt.
54 Jahre Ehe verbinden das Paar, das unerwartet sein Leben völlig neu organisieren muss. Die Ängste belasten. „Ich bin so froh, dass unser Sohn Jörg und seine Frau Regine uns helfen, besonders mit den Anträgen und den Unterlagen, die die Krankenkasse braucht“, betont Carabin.
Rund fünf Millionen pflegebedürftige Menschen gibt es in Deutschland. Meist sind Frauen im Einsatz. Carabin gehört zu dem männlichen Drittel (maximal), das zur häuslichen Pflege bereit ist. „Rund vier von fünf Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause versorgt“, weiß Andrea Amen, Teamleiterin Pflegeberatung bei der AOK Rheinland/
Hamburg, und Freundin der Familie. „Jeder braucht Unterstützung und hat ein Recht darauf. Wichtig ist es, sich sofort an einen Pflegestützpunkt zu wenden oder sich bei der Städteregion zu melden. Die Beratung ist kostenlos.“
Nach dem vorübergehenden Aufenthalt seiner Frau in einem Pflegeheim steht für Carabin fest: Er will die Pflege daheim übernehmen, alles für seine Frau tun. Ein tiefes Vertrauen – meist unausgesprochen – verbindet die beiden. „Ich kann meine Frau auch waschen, warum denn nicht?“, betont der Ehemann. Doch es ist ein ganzes Leben, das die Carabins umgestalten müssen.
Dort, wo sie besonders glücklich und entspannt sind, erleidet Marianne 2023 den Schlaganfall, dem später ein zweiter folgt: auf dem hübschen Campingplatz in den Niederlanden. Als Carabin den fünf Meter langen Campingwagen nach der Ankunft kurz verlässt, findet er bei der Rückkehr seine betroffene Frau. Vorbei ist das gemütliche Camper-Dasein, sind die Fahrten bis nach Ungarn, schöne Erlebnisse an der Mosel und mehr. Die 80-Quadratmeter-Wohnung in Aachen liegt im dritten Stock, kein Aufzug, keine Chance für Marianne Carabin. Wo die beiden Enkel – heute 13 (Jula) und 16 Jahre (Lia) alt – den langen Flur als Spielplatz geliebt haben, funktioniert leben nicht mehr. Die neue Wohnung hat 65 Quadratmeter, ist barrierefrei, immerhin.
Abschiede schmerzen. Die Wohnzimmerschrankwand muss von drei Elementen auf einen einzigen Schrank reduziert werden, nicht aller Hausrat findet Platz. Immerhin steht ein großer Fernseher als „Fenster zur Welt“ bereit, und Marianne Carabin hat ihren bequemen Sessel. Von hier aus sieht sie, die Kreative, was sie liebt: ein kleines Heer von rund 50 niedlichen „Hummel“-Kindern aus Keramik, selbst gefertigte Puppen in einer alten Wiege, eigenhändig geknüpfte Gobelin-Bilder über der Couch – Rembrandts „Mann mit dem Goldhelm“ und Vermeers „Milchmädchen“ zum Beispiel. Großer Trost sind zahlreiche Fotos von Familienfesten und -ereignissen, den Kindern, vom Baby bis zum Teenager – gelebtes Leben in allen Räumen. Farben und Formen begleiten Marianne Carabin weiterhin. Ihr Mann schlägt ein dickes Malbuch auf. Blumen, Ornamente und Mandalas, von ihr präzise und in zarten Farben ausgemalt. „Ja“ lächelt sie. „Ja!“, ein guter Anfang.
Arbeiten ist für den langjährigen Konditormeister, der sich ein kleines Zimmer für Computer und „mal durchatmen“ bewahrt hat, nie ein Problem. In Aachen wird er, der aus Baesweiler stammt, damals bei diversen namhaften Arbeitgebern tätig, kommt aus einer Zeit, in der man in guten Cafés noch Pralinen aus Meisterhand und feine Petits Fours neben üppigen Torten und Kuchen fand. Marianne Carabin, die er in Barmen kennenlernt, ist ausgebildete Lebensmittelfachverkäuferin und arbeitet später bei der Aachen-Münchener-Versicherung, als man dort die Computertechnik aufbaut. Als Carabin einen Onkel in Barmen besucht, lernt er die Tochter der Nachbarn kennen, die sich allerdings standhaft weigert, mit auf sein Motorrad zu steigen. Dann gehen sie gemeinsam zur Kirmes und verlieben sich.
Der heute 79-Jährige weiß genau, was es bedeutet, einen Schlaganfall zu erleiden – ihn trifft es im Alter von nur 49 Jahren. „Schlimm“, erinnert er sich. „Ich war plötzlich Rentner, durfte lange nicht Auto fahren, habe mich aber sehr gut erholt. Da hat mir meine Frau beigestanden. Heute stehe ich ihr bei.“
Im Moment kann er das Haus nur selten verlassen, muss bei manchen Erinnerungen mit den Tränen kämpfen. Zum Konzert des Musikvereins Hahn, den Sohn Jörg erfolgreich leitet, sind die beiden dann aber doch gefahren, ein Highlight. „Wir haben einen großartigen Freundeskreis und gute Unterstützung“, versichert Carabin, der täglich kocht – Nudeln, Bratkartoffeln, Scheibenkartoffeln, Blumenkohl, Kohlrabi, Frikadellen und mehr. Die Hoffnung trägt ihn. „Ich sehe jeden Tag bei meiner Frau kleine Fortschritte“, versichert er. „Ich denke, da wird sich noch manches tun.“