Seit 20 Jahren versucht die katholische Kirche in Deutschland, den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen aufzuklären. Vielen Kritikern geht dieser Prozess zu langsam. Mit einer neuen Struktur und neuem Personal soll die Aufarbeitung Fahrt aufnehmen.
Vorsitzender der bischöflichen Fachgruppe für Fragen des sexuellen Missbrauchs und von Gewalterfahrungen der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) ist der Aachener Bischof Helmut Dieser. Er tritt die Nachfolge des Trierer Bischofs Stephan Ackermann an, der nach zwölf Jahren das Amt als Missbrauchsbeauftragter aufgibt.
Die Aufgabe, die ihm und seinem Stellvertreter, dem Freiburger Erzbischof Stephan Burger, übertragen worden sei, sei sicherlich eine der wichtigsten, die im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz vergeben werden kann, sagte Bischof Dieser in einer Stellungnahme und ergänzt: „Mir ist klar: Vor uns liegen sehr große Aufgaben.“ Die wichtigste davon wird die Neustrukturierung des Themenbereichs innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz sein. In Eckpunkten hatte Bischof Ackermann diese in einer gemeinsamen Pressekonferenz vorgestellt. Ziel ist die Verstetigung, Neuordnung und Bündelung der Aufgaben und Maßnahmen im Bereich sexuellen Missbrauchs und Erfahrungen von Gewalt. Zugleich will die DBK mit dieser Neustrukturierung das Thema auf breitere Füße stellen.
In diesem Zusammenhang unterstrich Bischof Dieser, man habe das Konzept innerhalb der Konferenz wirklich vergemeinschaftet. Der Fachgruppe und dem Betroffenenbeirat soll mit dem neu gegründeten Expertenrat ein drittes Gremium zur Seite stehen, das mit einer breit aufgestellten Expertenkompetenz auch unabhängig von der Bischofskonferenz zum Thema arbeitet. Bis zur Frühjahrsversammlung 2023 sei es nun die Aufgabe, den Feinschliff zu erarbeiten. Eine Geschäftsordnung und ein Statut, die festlegen, wie die Gremien-Triangel miteinander arbeiten soll.
Er habe sich nicht zur Wahl gestellt, sagte Bischof Dieser. Aber als diskutiert wurde, was derjenige mitbringen müsse, der das Amt übernehme, habe er nicht argumentieren können, es treffe alles nicht auf ihn zu. Es habe jemand sein müssen, in dessen Bistum die Aufarbeitungsarbeit schon vorangeschritten sei. „Das kann ich für Aachen sagen“, unterstreicht Dieser in einem Interview mit der Katholischen Nachrichtenagentur KNA.
Im November 2020 veröffentlichte das Bistum Aachen ein unabhängiges Gutachten zum Missbrauch der Sozietät Westphal, Spilker und Wastl aus München. Aus den Erkenntnissen zehnjähriger Präventionsarbeit sind immer wieder neue Aufgabenfelder entstanden, die 2020 in der Fachstelle PIA gebündelt wurden. Hier sind alle Aufgaben zur Prävention (P), Intervention (I) und der Ansprechpersonen (A) von Missbrauch und sexualisierter Gewalt zusammengeführt. Seit dem 30. April gibt es im Bistum einen Betroffenenrat, der sich aus dem Kreis der Betroffenen selbst gegründet hat. Als unabhängiges Gremium berät er das Bistum in eigener Verantwortung in Aufarbeitung, Prävention und Intervention. Der Ständige Beraterstab in Fragen des Umgangs mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und schutz- oder hilfebedürftiger Erwachsener hat zum 1. Juni seine Arbeit aufgenommen. Eine unabhängige Aufarbeitungskommission für sexualisierte Gewalt hat sich bereits weitgehend konstituiert. Bischof Dieser wird im November die Beauftragung in einer Sitzung vergeben.
Für Mechtild Bölting, seit Februar dieses Jahres Präventionsbeauftragte im Bistum Aachen, kam die Wahl Diesers nicht überraschend. „Ich habe es gehofft“, sagt sie im Gespräch mit der KirchenZeitung. Auf Bundesebene war sie am Konzept zur Weiterentwicklung des Aufgabenbereichs „Fragen des sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Bereich und für Fragen des Kinder- und Jugendschutzes“ mit beteiligt. Bei der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs gehe es um systemische Veränderungen, bei denen alle zusammenarbeiten müssten. Den Prozess auf breitere Füße zu stellen, erfordere hohe Kommunikationskompetenz aller Beteiligten. Der Blick aufs Bistum Aachen werde bei diesem Thema intensiver sein, ist sie sich sicher. Ähnlich sieht es auch Rolf-Peter Cremer, stellvertretender Generalvikar: „Das eigene Bistum gilt als Reflexions- und Übungsfeld. Gute Erfahrungen, die hier gemacht werden, können auf Bundesebene eingebunden werden.“
Er stehe in seiner neuen Aufgabe am Anfang, sagt Bischof Dieser. Bischof Ackermann habe ein umfangreiches Netzwerk aufgebaut. Es gelte, die Menschen kennenzulernen, die mit ihm gemeinsam unterwegs seien. So schnell wie möglich wolle er mit dem Betroffenenbeirat sprechen. „Wir haben es mit dem Los von tief verletzten Menschen zu tun, deren Anliegen, deren Lebensleid, deren Kampf um Lebensglück, dass sie mehr Gerechtigkeit erfahren. Das ist eine große Herausforderung.“ Dies sei das Hauptmotiv, das ihn in die Aufgabe hineinführe.
Er wolle Betroffenen Mut machen, aus dem Dunkelfeld herauszutreten und das eigene Leid erzählen zu können. Dass sie das Vertrauen gewinnen, dass sie jetzt auch ernst genommen werden und nichts bagatellisiert wird. Dafür müsse Kirche, aber auch die gesamte Gesellschaft eine Atmosphäre schaffen. Nicht zuletzt davon hänge auch die Glaubwürdigkeit der Kirche ab.
In der Frage, ob nicht nur die Kirche selbst, sondern die Politik die Aufarbeiung übernehmen soll, sagt Bischof Dieser: „Ich halte an dieser Forderung etwas für entscheidend wichtig: nämlich dass es nicht nur um den sexuellen Missbrauch gehen kann, der innerhalb der Kirche leider geschehen ist, sondern dass das Thema ein gesamtgesellschaftliches ist. Es braucht eine Glaubwürdigkeit der Kirche dadurch, dass sie sich nicht nur eigenen Regeln stellt.“ Hier hoffe er auf Impulse der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs Kerstin Claus und darauf, „dass sie einen Kriterienkatalog formuliert nicht nur für die Kirche, sondern für alle Player in der Gesellschaft“.
Für das Bistum Aachen benennt Mechtild Bölting zwei große Aufgaben in der näheren Zukunft: im Bereich Prävention ist das die Überarbeitung der Schutzkonzepte der verschiedenen Einrichtungen. Es gehe darum, weiterhin die Lücken zu schließen und zur Verantwortung zu stehen. Für den Bereich Intervention bleibt die Bearbeitung von Anfragen und Verfahren, das Fallmanagement, ein Schwerpunkt. Aus den Verfahren ließen sich Lehren ziehen, die in die Präventionsarbeit einfließen.
Seit Juli dieses Jahres ist auch für nicht-kirchliche Einrichtungen Präventionsarbeit zum Schutz Minderjähriger verpflichtend gemacht worden. Zunehmend kämen aus diesem Bereich entsprechende Anfragen, beispielsweise für Schulungen. „Da können wir uns gegenseitig helfen.“