Grenzen wahrnehmen

Das Programm „Respekt Coaches“ baut Vorurteile ab und wirbt für ein tolerantes Miteinander

Carla Rodrigues (l.) und Isabelle Cremer mit Ergebnissen ihrer Arbeit: so kreativ und  aktiv und unterichtsfern wie möglich. (c) AndreaThomas
Carla Rodrigues (l.) und Isabelle Cremer mit Ergebnissen ihrer Arbeit: so kreativ und aktiv und unterichtsfern wie möglich.
Datum:
4. Juli 2023
Von:
Aus der KirchenZietung, Ausgabe 27/2023 | Andrea Thomas

Sich informieren und sich eine eigene Meinung bilden, argumentieren, diskutieren und auch andere Meinungen akzeptieren, anderen mit Respekt begegnen, Position beziehen gegen intolerantes und diskriminierendes Verhalten. Das Präventionsprogramm „Respekt Coaches“ vermittelt jungen Menschen demokratische Werte und stärkt sie in ihrer Persönlichkeit.

In Aachen und der Städteregion heißen die „Respekt Coaches“ Isabelle Cremer und Carla Rodrigues vom Jugendmigrationsdienst (JMD) des Regionalcaritasverbands. Einem von zahlreichen JMDs bundesweit, die das Programm seit fünf Jahren im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend umsetzen. Zielgruppe sind Jugendliche zwischen 12 und 27 Jahren an weiterführenden und berufsbildenden Schulen. Ziel ist, Vorurteile an Schulen abzubauen, Toleranz zu fördern und junge Menschen stark zu machen gegen menschenfeindliche Ideologien, Diskriminierung und Mobbing.

Zurzeit arbeiten Isabelle Cremer und Carla Rodrigues mit vier Kooperationsschulen. Was wenig erscheint, doch sie seien „lieber in einer Schule länger und nachhaltiger, als an mehr Schulen nur kleine Feuerwerke abzubrennen“, sagt Isabelle Cremer. Sie hatte Anfang 2020 gerade angefangen, ihre Kollegin Carla Rodrigues ist seit 2019 dabei, als Corona kam. Wann immer und so wie es gerade möglich war, sind sie in die Schulen gegangen, die zum Glück dabeigeblieben seien. Aber es sei anstrengend gewesen, die Masken, die die Mimik unkenntlich machten, die Unsicherheit, ob die Stunden stattfinden oder nicht. Sie haben durchgehalten und 2021 sogar bislang die meisten Jugendlichen erreicht.

Die Zusammenarbeit mit den Schulen wird individuell geplant, nach Bedarf und zeitlichen Möglichkeiten. Das kann ablaufen, wie am Geschwister-Scholl-Gymnasium Aachen, in dem pro Schuljahr ein Thema im Vordergrund steht, zu dem jede Klasse mindestens an einem Workshop teilnimmt, oder wie am Berufskolleg Herzogenrath, wo sie mit einer Klasse fest zusammenarbeiten und Workshops für andere Klassen organisieren. Eine feste Klasse zu haben, sei spannend, sagt Carla Rodrigues. „Ich habe so die Möglichkeit, die Jugendlichen aktiv einzubinden und ihre Vorschläge aufzugreifen.“ Zum Beispiel, um eigene Diskriminierungserfahrungen der Jugendlichen aufzuarbeiten.

Egal, ob eine in sich abgeschlossene Einheit oder regelmäßige Stunden über das Schuljahr hinweg – wichtig sei, dass das Angebot der „Respekt Coaches“ möglichst unterrichtsfern und so kreativ und aktiv wie möglich sei. Dazu arbeiten sie mit freiberuflichen Expertinnen und Experten oder Trägern der politischen Bildung zusammen. Leider sei das Angebot da durch die Pandemie auch weniger geworden, seien die guten Kräfte schneller ausgebucht. Komme jemand von weiter her, sei das zudem eine Frage der Kosten. Sie müssen alle Maßnahmen beantragen, Kostenträger ist das Ministerium, weshalb sie zwar auf akute Bedarfe zu reagieren versuchten, aber immer auch zeitliche Puffer einplanen müssten.

„Respekt“ – am Ende der Zeit mit den „Respekt Coaches“  ist das nicht mehr nur ein Wort, sondern eine Haltung. (c) Jugendmigrationsdienst Caritas
„Respekt“ – am Ende der Zeit mit den „Respekt Coaches“ ist das nicht mehr nur ein Wort, sondern eine Haltung.

Trotzdem bemühen sich Isabelle Cremer und Carla Rodrigues auch weiter, Highlights wie Graffiti-Aktionen, einen Rap zu schreiben oder Sportangebote einzubinden. Die dienen auch als Türöffner, denn ihre Arbeit ist Beziehungsarbeit. „Warum sollen Jugendliche jemandem, den sie nicht kennen, direkt erzählen, was sie beschäftigt?“, sagt Isabelle Cremer. Sei eine Beziehung entstanden, entstünden oft schöne Situationen, „weil wir von außen in die Klasse kommen und anders wahrgenommen werden als die Lehrkräfte“, berichtet Carla Rodrigues. Dann öffneten sich die Jugendlichen oft ganz anders. „Eine Lehrerin hat am Ende gesagt, sie habe ihre eigene Klasse nicht wiedererkannt.“ Wichtig sei, dass ein geschützter Raum entstehe, in dem die jungen Leute sich ernstgenommen fühlen und ihre Meinung offen sagen können und lernen, mit ihr und der Meinung der anderen zu leben: „Was du gemacht oder gesagt hast, ist nicht cool, aber ich komme trotzdem mit dir klar.“

Die Pandemie habe viel verändert. „Social Media ist noch krasser geworden, noch ungefilterter, und Mobbing hat andere Formen angenommen. Für Anerkennung und Wertschätzung dort wird in Kauf genommen, dass Menschen gedemütigt werden“, beschreibt es Carla Rodrigues.

Die Grenzwahrnehmung werde immer niedriger, weshalb aktuell Anti-Mobbing und Zivilcourage wichtige Themen seien. Ein weiteres ist das soziale Miteinander als Gruppe und die Stärkung der Persönlichkeit des einzelnen. „Es besteht ein großer Bedarf nach Austausch und danach, sich als Klasse zu finden. Wer sind wir? Wie geht es uns? Was heißt Respekt?“, zählt Isabelle Cremer auf.

Inhaltlich greife in dem Programm vieles ineinander, Raum habe alles, „was mit Demokratie zu tun hat“. Damit es Erfolg hat, sind sie auf die Unterstützung durch Schule, Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter angewiesen. „Ein enger Austausch und Transparenz sind wichtig, weil immer wieder mal etwas aufbrechen kann“, sagt Isabelle Cremer. Ihre Kollegin ergänzt: „Wichtig ist, dass wir als teamzugehörig wahrgenommen werden, einen guten Kontakt zur Schulsozialarbeit haben.“ Im besten Fall werden über die Arbeit mit den „Respekt Coaches“ auch die Lehrkräfte sensibilisiert, ändert sich die Kultur des Miteinanders.