Gottes Gegenwart finden

Seelsorge ist eine Haltung im Umgang mit demenziell Erkrankten: zwischen Angebot und Anteilnahme

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Datum:
19. Apr. 2022
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 16/2022 | Dorothée Schenk

Eine „Woche für das Leben“ und das Thema Demenz scheinen sich auszuschließen. Wer zeitlich und räumlich desorientiert ist, für den ist „Leben“ eine Mammutaufgabe, die täglich anstrengender wird. Anne Mahr, Psychiatrieseelsorgerin in der Klinik „Königshof“ in Krefeld, hat 2009 die Aufgabe angenommen, Menschen mit diesem Krankheitsbild zu begleiten – aber auch deren Angehörige und das Kollegium der Klinik. 

„Als Seelsorger oder von Kirche Entsandte sagen wir auch aufgrund unserer eigenen innerlichen Überzeugung, dass es immer ein lebens- und liebenswertes und von Gott gewolltes Leben ist – so lange, bis es zu Ende ist. So arbeiten wir auch“, erklärt die Pastoralreferentin mit therapeutischer Zusatzqualifikation ihre und die Haltung des evangelischen Kollegen, mit dem sie das Seelsorgeteam im „Königshof“ bildet. „Wir tun alles, was in unserer Macht steht, damit dieses Leben gelingen kann und erträglich ist.“ Als ergänzende Profession zur Krankenpflege, dem medizinischen undpsychologische Personal sieht Anne Mahr, eine „religiöse und grundsätzlich tröstende Perspektive“ zu schaffen. Es gehe darum, „in dem Leid für die Patienten, Bewohner, Angehörigen und auch Mitarbeiter zu gucken: Wo gibt es Hoffnungsperspektiven und Ressourcen, wo kann man Gottes Gegenwart finden?“

An erster Stelle stehen stets Anteilnahme und Gesprächsbereitschaft. Das bedeutet, dass die Seelsorge sichtbar sein muss. „Wir sind da, wenn Besuchszeiten sind“, erklärt Anne Mahr die gängige Praxis. So sind sie stets ansprechbar, wenn Betroffene oder Angehörige das Bedürfnis haben, über ihre Nöte, aber auch ihre Trauer zu sprechen. Bei den Erkrankten geht es um die Sorge vor dem Kontrollverlust, wenn sie feststellen, dass sie sich in die Hände von anderen begeben müssen, und nicht mehr wissen, wer und wo sie sind. „Der Zwischenschritt, in dem die Menschen das mitbekommen und merken, ist schlimm für die Betroffenen.“

Dazu kommen die Sorgen der Angehörigen. „Ich erlebe Ehepaare, die auf der einen Seite sehr oft überfordert sind – das beschäftigt auch die Mitarbeiter auf den Stationen sehr –, aber nicht loslassen können und immer hoffen, sie schaffen es doch noch zu Hause. Das entsteht aus der Haltung: Wir haben uns versprochen, ein Leben lang füreinander da zu sein.“ Nur schwer ertragen könnten sie, dass sie das Versprechen nicht einlösen können. „Ich erlebe diese Generation als eine, die extrem hart im Nehmen ist und nicht jammert, sondern macht –  ja und dann macht man einfach.“ Es sei Aufgabe der Seelsorge, mit den Angehörigen zu sprechen, dass es kein „Verrat“ sei, den Partner in andere Hände zu geben. Ein weiterer Aspekt seien die Gewaltausbrüche bei dementiellen Erkrankungen. „Das wird von den Angehörigen oft totgeschwiegen“, spricht Pastoralreferentin Anne Mahr ein Tabuthema an.

Gut vorbereitet sieht Anne Mahr nicht nur sich und ihren evangelischen Kollegen Pfarrer Torsten Möller für die anspruchsvolle Aufgabe. Bereits zur Grundausbildung der Pflegekräfte gehöre die Schulung im Bereich Demenzerkrankungen. Aber auch im weiteren Verlauf biete das Haus immer wieder Fortbildungen dazu an, an der übrigens auch die beiden Seelsorger teilnehmen können – wenn sie wollen. Profitiert hat die Pastoralreferentin etwa von einer Weiterbildung „Aromapflege“. „Das ist bei uns ein Schwerpunkt“, berichtet sie. Verschiedene Essenzen und Öle tragen bei den Demenzerkrankten zur Beruhigung und Entspannung bei.

Gleiches bewirke, so erzählt Anne Mahr, auch der Besuch der Gottesdienste, die sie regelmäßig anbietet. Hierbei gehe es vor allem darum, Erinnerungen zu wecken. Die „klassischen Elemente“ der Feiern helfen dabei ebenso wie das Besinnen auf traditionelle Dekorationen, das Zurückgreifen auf altbekannte Gebete. „Ich singe immer mit den Menschen Lieder, die sie auswendig können. Das ist auch schon mal krumm und schief, aber das ist nicht von Bedeutung.“ Aber es gilt auch, Herausforderungen zu meistern. Die Pastoralreferentin berichtet schmunzelnd: „Natürlich muss man sekündlich umschalten können und flexibel sein beim Gottesdienstablauf.“ Es komme halt vor, dass Gottesdiensteilnehmer unverhofft umherliefen, dazwischenredeten oder auch aggressiv würden. „Wenn die Menschen danach sagen ,Ach das war so schön!’, dann bin ich immer glücklich.“ Zusätzlich bestärkt sie die Rückmeldung der Pflegekräfte, dass „die Menschen ruhiger werden, wenn sie am Gottesdienst teilnehmen“.

Eine weitere Aufgabe der Seelsorge ist die Vermittlerrolle. In den Einzelgesprächen entdeckt sie Ressourcen, die der demenziell veränderte Mensch früher mal hatte und die vielleicht noch mal zu aktivieren sind: Liebe zum Garten oder zu Tieren, zur Musik oder Literatur. Die gewonnenen Erkenntnisse geben sie an die Stationsmitarbeiter weiter, organisieren aber zusätzlich auch, dass Lieblingsmusik oder -bücher vor Ort sind. Weitere Aufgaben, die Anne Mahr aufzählt, sind ethische Fallberatungen, der Kontakt zu Hospizdiensten, die eingeschaltet werden. Zuletzt bietet das Seelsorge-Team Sterbegleitung an –  auch für die Angehörigen. „Sehr wichtig für mich ist, in den Fokus zu stellen, dass wir alles vor dem geistlichen Hintergrund tun.“ 

Stichwort: Woche für das Leben

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Demenz gehört inzwischen zum Alltag. Als der amerikanische Präsident Ronald Reagan Ende der 1990er Jahre und Schalke-Manager Rudi Assauer vor rund zehn Jahren bekanntgaben, dass sie sich wegen ihrer Demenzerkrankung aus der Öffentlichkeit zurückziehen würden, war es noch etwas Besonderes. Inzwischen ist die Lebenserwartung gestiegen und damit auch die Zahl der Demenzerkrankten. Heute geht man von weltweit 46,8 Millionen Betroffenen aus, deren Zahl jedes Jahr schätzungsweise um 7,7 Millionen Neuerkrankungen wächst. Das bedeutet nicht nur eine gesellschaftliche Veränderung. Es hat auch auf Berufsbilder Auswirkungen, auch auf das der Seelsorge.

Die ökumenische Woche für das Leben steht in diesem Jahr unter dem Thema „Mittendrin. Leben mit Demenz“. Vom 
30. April bis 7. Mai richten die christlichen Kirchen den Fokus auf diese Krankheit und wollen bewusst machen, dass diese Menschen wertvolle Glieder der Gesellschaft sind und spüren können sollen, dass ihr Leben schützenswert ist.