Ritterlich sollte ein St. Martin sein. Ein Edelmann, der neben guten Manieren auch Empathie in seiner Persönlichkeitsbeschreibung hat. Wer Reiner Winters begegnet, spürt, dass er die Rolle verkörpert. 50 Züge hat er in Alt- und Neu Lich-Steinstraß begleitet, 19-mal war er St. Martin in der Katholischen Grundschule und einmal im Kindergarten.
Er ist charmant und zugewandt, interessiert und interessant, und allem Anschein nach bringt ihn nichts aus der Ruhe – nicht einmal stolpernde Kellnerinnen, die Vorspeisen über den Gast ausgießen. Es zerknautscht ihm nicht die Gesichtszüge, vielmehr hat er einen freundlich-neckenden Satz auf den Lippen und beruhigt die aufgeregte Serviererin. Also im Grunde kein Wunder, dass die Wahl bei der Besetzung des „St. Martins“ auf Reiner Winters gefallen ist. Das ist inzwischen 50 Jahre her. Zu einer Zeit, als Lich und Steinstraß noch keine Stadtteile von Jülich waren.
Angefangen hat alles am 6. Dezember. „Ganz spontan musste ein Nikolaus her. Da habe ich mir eine weiße Tischdecke umgelegt, etwas Watte im Gesicht befestigt und aus der Lameng die Rolle übernommen“, erzählt Reiner Winters. Im Folgejahr trug man ihm dann die „Stelle“ als St. Martin an. Dass er ihr 50 Jahre treu bleiben würde, war ihm da natürlich noch nicht klar. Weder die Zeit in Köln, wo er sich zum Betriebswirt ausbilden ließ, noch die Umsiedlung und seine Berufstätigkeit im Forschungszentrum Jülich hielten ihn davon ab, im November den wichtigsten Ritt des Jahres zu absolvieren – sicher geführt, denn tatsächlich ist Reiner Winters auch nach fünf Dekaden eher ein vom Pferd Getragener, denn ein Reiter. Das überlässt er seiner inzwischen erwachsenen Tochter.
Vieles habe sich in den 50 Jahren verändert. Nicht nur räumlich durch die Umsiedlung. Das Martinsfest, das empfindet der heute 71-Jährige doch deutlich, hat seine Wertigkeit eingebüßt. Das sagt er in Erkenntnis, nicht im generationsmotivierten Jammerton.
Nostalgisch erinnert er sich an die Zeit, als in Alt-Lich-Steinstraß die ganze Schule sich aufstellte – jahrgangsweise. Die Kinder hatten in den Klassen oder zu Hause mit der Familie ihre Laternen gebastelt. Apropos: Reiner Winters berichtet, wie die ganze Familie inklusive der Großeltern den Moment erwartete, da die Tüte prall gefüllt zu Hause angekommen sei. Jeder habe etwas davon abbekommen. „Denken Sie an die berühmte Apfelsine, die bei uns drin war!“ In Zeiten, in denen bereits im September die ersten Spekulatius in den Regalen der Geschäfte liegen, sei dieser Reiz natürlich überholt. Durch den neuen Ort, den Wegfall der dorfeigenen „Moppebäcker“– nach dem Umzug auf die Merscher Höhe gab es nur noch einen in Lich-Steinstraß – und das wachsende, gut beworbene Angebot in den Supermärkten und Discountern war die „süße Tüte“ nicht mehr das außerordentlich Besondere.
Ganz unterschwellig habe in dieser Martinstradition auch der Begriff der Barmherzigkeit mitgeschwungen. „Er wurde zu Hause nie verwendet, aber die Eltern erzählten, wem es schlecht ging, und man half sich gegenseitig. Diese unmittelbare Hilfsbereitschaft ist untergegangen.“ Auch die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft ist sichtbar. Das lässt sich an der Zahl der Kinder und Familien nachhalten, die vor dem Martinszug in St. Andreas und Matthias die Einstimmung besuchen. Hier versucht Reiner Winters, den Wert dieses christlichen Brauchtums zu vermitteln. „Teilen bedeutet immer etwas abgeben. Man muss sich von irgendetwas trennen. Und was kann ich tun, ohne mich selbst zu schädigen, aber den anderen glücklich zu machen? Ich kann natürlich auch Zeit teilen. Der erste Schritt ist, etwas zu tun.“
In diesem Jahr steigt Reiner Winters zum letzten Mal auf sein Martinsross. Dann trägt er zum letzten Mal seine schwere römische Rüstung und den Helm mit Federbusch. Nachdem er peinlich berührt von der ersten Gewandung war, von der er sagt: „Die hätte ich nicht mal im Karneval tragen wollen“, hatte er sich mit den Jahren diese weitgehend authentische Bekleidung zugelegt. Dazu gehört auch der Bart. „Eigentlich waren die römischen Soldaten ja bartlos. Als ich das in einem Jahr versucht habe, gab es einen Riesenaufschrei“, erzählt Winters und grinst. Anfangs trug er einen „gekauften“ Bart, den er in Köln gefunden hatte.
Die Anbringung der „Bartwolle“ mit Spezialkleber war für ihn eine Tortur, und Vater Matthias hatte ihn dafür rücklings auf den Küchentisch gelegt. Beim späteren Verteilen der Tüten im Schulgebäude griff ein Kleinkind die Tüte mitsamt Bart. Es folgte ein Desaster und eine Verfolgungsjagd, denn weder Kind noch Mutter hatten gemerkt, dass sie den „Martinsbart“ mitgenommen hatten. Das konnte später nicht mehr passieren, denn immer, wenn der Martinsabend nahte, ließ sich Reiner Winters einen echten Bart stehen.
Was wird jetzt aus Rüstung und Gewand? Bekommt sie der nächste „St. Martin“ von Lich-Steinstraß als Erbe? „Das weiß ich noch nicht“, sagt Reiner Winters nachdenklich. Den gibt es nämlich noch nicht. Was fehlt, ist ein Nachfolger.