Theologe Simone Paganini ist seit 2013 Professor für Biblische Theologie an der RWTH Aachen. Der gebürtige Italiener beschäftigt sich seit langem mit den Ursachen des Nahostkonflikts. Im Interview gibt er eine Einschätzung.
Seit wann besteht der Nahostkonflikt?
Der Nahostkonflikt hat eine lange und komplexe Geschichte. Seine Wurzeln reichen bis in die osmanische Zeit zurück, als die Spannungen zwischen jüdischen und arabischen Gemeinschaften in Palästina zunahmen und sich nach dem Ersten Weltkrieg unter britischer Mandatsverwaltung noch verschärften. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust wurde in Palästina ein jüdischer Staat gegründet, der 1948 einseitig seine Unabhängigkeit erklärte. Dies führte zum Krieg mit den arabischen Nachbarstaaten. Dabei eroberte Israel weitere Gebiete, was zur Vertreibung vieler Palästinenser führte (Nakba). Im Sechs-Tage-Krieg 1967 eroberte Israel Westjerusalem, das Westjordanland und den Gazastreifen, was eine anhaltende Besatzung dieser Gebiete zur Folge hatte.
Was genau ist die Hamas?
Die Hamas (zu Deutsch „Islamische Widerstandsbewegung“) wurde Ende der 1980er Jahre gegründet. Sie besteht aus einem militärischen Arm (der Qassam-Brigade), einer Hilfsorganisation und einer politischen Partei. Vor allem die Besetzung der palästinensischen Gebiete sowie die Siedlungspolitik Israels und die ungelöste Frage der Annexion Ost-Jerusalems führten immer wieder zu Konflikten, die vor allem im abgeriegelten Gazastreifen zu großen Verlusten und humanitären Krisen führten.
Warum geschieht ausgerechnet jetzt diese Eskalation? Hat irgendetwas darauf hingedeutet?
Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas ist das Ergebnis einer komplexen Mischung aus historischen, politischen, religiösen und sozialen Faktoren. Dass er gerade jetzt so eskaliert ist, mag damit zusammenhängen, dass die israelische Regierung durch die monatelangen Proteste gegen die Justizreform stark geschwächt ist. Nicht wenige israelische und arabische Quellen, die man in den sozialen Medien wahrnehmen kann, weisen aber auch auf eine indirekte Verantwortung der israelischen Regierung hin, die möglicherweise von geplanten Aktionen wusste, diese aber in Kauf genommen haben könnte, um von den innenpolitischen Problemen der Politik Nethanjahus abzulenken. Es ist davon auszugehen, dass man dabei nicht mit einer derartigen Grausamkeit der Angriff der Hamas gerechnet hatte. Tatsächlich scheint es nun so, als habe die unerbittliche Reaktion gegen die Hamas die seit Jahren zerstrittenen Parteien der Knesset geeint.
Wie schätzen Sie das Entstehen einer weiteren Gewaltspirale ein?
Da gibt es nicht viel einzuschätzen: Die Spirale der Gewalt ist bereits im Gange. Es bleibt zu hoffen, dass es der Diplomatie gelingt, diese Spirale zu unterbrechen. Israel hat in der Vergangenheit bewiesen, dass es mit Hilfe der USA durchaus in der Lage ist, gleichzeitig gegen mehrere arabische Länder zu kämpfen. Was in der Welt passieren würde, wenn ein offener Krieg mit dem Iran ausbrechen würde, will man sich lieber gar nicht ausmalen. Aber inzwischen bombardieren Jets der IDF den Libanon und Syrien. Die Spirale der Gewalt dreht sich also bereits.
Gibt es Hoffnung auf Frieden?
Das ist die Frage aller Fragen. Im Moment halte ich es für utopisch, darüber nachzudenken. Es herrscht Krieg, das heißt, es sterben ständig unschuldige Zivilisten und der Westen legitimiert und akzeptiert genau das unter Berufung auf das Recht der Selbstverteidigung. Dabei werden weder die Ursachen des Konfliktes, noch die Methoden seiner „Befriedung“, geschweige denn die zu erwartenden Folgen reflektiert. Was wir in vielen Medien lesen und hören, vereinfacht eine sehr komplexe Situation. Gewalt ist immer zu verurteilen, auf beiden Seiten, auch wenn wir in Europa oft nur einseitig informiert werden. Weder Israel noch die Palästinenser – die politisch und militärisch übrigens äußerst zerstritten sind - haben eine Lösung parat.
Was könnte die Lösung für einen Konflikt sein?
Zwei Staaten, ein Staat, die Umsiedlung der Palästinenser nach Ägypten, eine Konföderation: Es gibt eine ganze Reihe von UN-Resolutionen zur Lösung der Palästina-Frage, und es gibt auch einige bilaterale Abkommen, Initiativen, die auf Frieden abzielen. Aber dann kommt es zu einem schrecklichen Terrorakt, wie ihn die Hamas dieser Tage verübt hat, gefolgt von einer brutalen Reaktion Israels und der ganze Prozess wird zunichte gemacht. Die Leidtragenden sind am Ende immer dieselben: die Palästinenser in Gaza, die ständig bombardiert werden, und die einfachen Israelis, die auch heute noch, 75 Jahre nach der Staatsgründung, nicht friedlich ein Fest feiern können, ohne Angst haben zu müssen, Opfer Terroranschäge zu werden ...