Hedwig Nievelstein schiebt ihren Rollator über den Weg mit den kleinen Steinen. Sie macht eine kleine Kurve, um eine Baumwurzel herum, und geht dann einmal quer über das Stück Rasen. Auf diesem Stück waren einst Gräber, aber heute entwickelt sich der städtische Friedhof in Mönchengladbach mehr und mehr zum Park.
Das Leben ändert sich und das sieht man auch am Friedhof und dem angrenzenden Park, dem Bunten Garten. Die bekannteste Grünanlage im Zentrum von Mönchengladbach war ebenfalls einst ein Friedhof. Hier und da sieht man noch alte Grabsteine unter den Bäumen und Stauden.
„Auf diesem Weg habe ich früher das Gebet zum Heiligen Geist von Kardinal Mercier gelernt“, sagt Hedwig Nievelstein. Noch heute betet sie es jeden Tag. Die 83-Jährige ist in Mönchengladbach geboren und aufgewachsen. Vor 50 Jahren hat sie die Stadt verlassen und ist nach Krefeld gezogen. Heute ist Nievelstein wieder da, um mit Bischof Helmut Dieser zu pilgern. Gut vier Kilometer liegen vor ihr.
45 Pilgerinnen und Pilger finden sich am Amphitheater der Bischöflichen Marienschule zusammen. Sie machen sich im Heiligen Jahr als „Pilger der Hoffnung“ auf den Weg. Sichtbare Zeichen dafür sind die Bänder an ihren Handgelenken, die Charlotte Lorenz, Sprecherin des Gemeinderats der Gemeinde St. Mariä Himmelfahrt im Münster St. Vitus, verteilt. In grüner Schrift ist das Motto auf weißem Grund gedruckt – Grün wie die Hoffnung. Bevor sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf den Weg machen, singen sie gemeinsam die Hymne zum Heiligen Jahr. Drei Personen kennen sie bereits, aber unter der Leitung von Münsterkantor Klaus Paulsen lernen auch die anderen die Strophen schnell.
„Mönchengladbach ist meine Heimatstadt“, sagt Hedwig Nievelstein. Der Pilgertag mit dem Bischof sei eine gute Gelegenheit, die Stadt wieder zu besuchen und mit dem Bischof den Gottesdienst in der Münsterbasilika zu feiern. Auch Kritik hat sie mitgebracht: „Der Heilige Geist als Person müsste viel deutlicher erklärt werden“, findet die Seniorin. „Lange Zeit war ich mir gar nicht über seine Rolle bewusst.“ Dabei sei die doch auch sehr wichtig.
Der direkte Kontakt mit den Menschen, zu erfahren, was sie bewegt, schätze er an dem Pilgertag, sagt Bischof Dieser. Bereits im April hatte er zu einem Pilgertag nach Steinfeld eingeladen. Mit diesen Eindrücken ist er auch nach Mönchengladbach gekommen. „Das niedrigschwellige Angebot für Kircheneintritte wurde dort gut angenommen“, sagt Dieser. „Das hat mich überrascht. Auch die Beichtgelegenheit wurde gut wahrgenommen.“ Nun sei er gespannt, was er in Mönchengladbach von den Leuten erfahre und wie hier die Angebote angenommen werden.
Als er 2016 Bischof von Aachen wurde, habe er Mönchengladbach gar nicht gekannt, sagt er. „Aber jetzt habe ich mich an die Stadt gewöhnt und schon viele schöne Momente hier erlebt“, sagt Dieser. „Ich bin gespannt, wie man durch eine Stadt pilgert.“ Vier Stationen, an denen die Pilgerinnen und Pilger Impulse mit auf den Weg bekommen, liegen auf der Strecke.
Die Stele an der Peter-Nonnenmühlen-Allee, die von weitem wie ein glattes, gerades Kantholz wirkt, ist die erste Station. Der Bildhauer Ulrich Brinkmann schuf sie im Jahr 2000, im Jahr der Euroga 2002 wurde sie in der Parkanlage ausgestellt. Wer ihr näherkommt, sieht den Spalt, der sich über die gesamte Länge durch das Holz zieht, immer deutlicher. Gemeindereferent Christoph Rütten stellt angesichts der Skulptur die Parallele zum eigenen Ich her. Die nach außen gezeigte Seite verdeutlicht den Kontrast zur eigenen inneren Zerrissenheit.
Auch die Figur „Sonnensucher“ im Bunten Garten, die wegen ihrer Nacktheit bei seiner Installation 1950 noch Empörung hervorrief, gehört zu den Stationen. Zwei Wochen nach ihrer Installation verschwand die Bronze-Figur spurlos, wurde aber durch eine neue ersetzt. Sein suchender, in den Himmel gerichteter Blick erinnere ihn an den 121. Psalm, sagt Rütten. „Ich erhebe meine Augen zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?“
Erste Hilfe für knurrende Mägen und dürstende Zungen leisten Annika Koch und Dustin Fisseler. Die beiden sind Jugendbeauftragte der Katholischen Jugendarbeit (KathJa) in den Regionen Heinsberg und Mönchengladbach. Jetzt kümmert sich das Duo mit gebackenen Waffeln und Mineralwasser darum, dass die Pilger gestärkt ihren Weg fortsetzen können.
Für Hedwig Nievelstein wird das KathJa-Team aber auch ein paar Minuten später zur unerwarteten Hilfe. Vor der Gruppe liegen noch gut eineinhalb Kilometer, ein großer Teil davon in der intensiver gewordenen Sonne, entlang an einer viel befahrenen Straße. Das ist zu viel für die Seniorin, die schon fast drei Kilometer in den Beinen hat. Das KathJa-Team fährt sie und ihre Freundin zum Münster, das Ziel des Weges. Für die Seniorin wird die Basilika Minor zu einem Ort, an dem Geist, Körper und Seele Erholung finden.
Die anderen Pilgerinnen und Pilger aber sehen nun die Gesichter einer Großstadt: graue Straßen mit sanierungsbedürftigen Fassaden, Fußballkneipen mit biertrinkenden Fans und das historische Krankenhaus Maria Hilf, in dem seit Jahren keine Patienten mehr behandelt werden. Hinter dem Haus ist die Brachlandschaft zu sehen, die übrig geblieben ist, nachdem der Komplex bis auf den historischen Teil abgerissen wurde. „Auch die katholische Hauptschule, die einen sehr guten Ruf hatte, wurde aufgegeben“, berichtet eine Pilgerin dem Bischof.
Auf den letzten Metern sind die Glocken des Münsters zu hören, die die Ankunft der Pilgergruppe verkünden. Das Hauptportal ist weit geöffnet, unter den Orgelklängen „Ein Haus voll Gloria schauet“ ziehen die Frauen, Männer und Kinder ein. Es ist alles gut.