Vor 80 Jahren wollte man Eva Weyl ermorden. Sie stand mit ihrer Familie auf einer Deportationsliste des niederländischen Durchgangslagers Westerbork in das Todeslager nach Auschwitz. Sie überlebte und erzählt ihre Geschichte heute unter anderem an Schulen. Auch vor der Jahrgangsstufe 9 der Liebfrauenschule in Grefrath-Mülhausen.
„Ich stand auf der Todesliste“ – mit diesen Worten eröffnet die heute 89-jährige Eva Weyl ihren Vortrag. Sie erlebte die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg als Kind und Heranwachsende. Drei Jahre war sie mit ihrer Familie im niederländischen Durchgangslager Westerbork interniert. Eva Weyl gehört zu den 5000 Überlebenden des Lagers. 107000 Juden, Sinti, Roma und Widerstandskämpfer überlebten nicht. Sie
starben in den Vernichtungslagern des Ostens, in die sie von Westerbork aus deportiert wurden.
Eva Weyl wird am Niederrhein geboren. Ihre Familie hat Wurzeln in Kleve und Freiburg, der Vater hat ein Kaufhaus in Kleve. Der Familie geht es gut. Bis die Nationalsozialisten an die Macht kommen. Zunehmend spürt auch die kleine Eva die Repressalien gegen Menschen jüdischen Glaubens. „Man wollte die Juden wegmobben“, sagt sie. Mobbing und Verhöhnung jüdischer Mitschülerinnen und Mitschüler wurden zum Alltag. Der Vater wird zwangsenteignet, verliert das Kaufhaus. 1933 beschließt die Familie zu emigrieren. Nach Arnheim in die Niederlande. Noch ist das möglich. Ihre Großväter möchten zuerst nicht gehen: „Sie sagten: Wir sind Deutsche, wir haben im Ersten Weltkrieg gekämpft“, erzählt Eva Weyl. Ihnen gelingt später, in letzter Minute, die Auswanderung. Ein Großvater geht in die USA, stirbt dort an Tuberkulose. Der andere geht nach Großbritannien, kehrt nach dem Krieg zurück nach Deutschland.
Die Gewalt gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger, die brennenden Geschäfte und die in Flammen stehende Synagoge in der Reichspogromnacht erlebt sie aus der Ferne: „Das war der Anfang vom Holocaust.“
Für Evas Familie ist es nur Sicherheit auf Zeit. Als die Deutschen die Niederlande besetzen, beginnt für die dort lebenden Jüdinnen und Juden alles von vorn. Eva ist sechseinhalb Jahre alt, als ihre Eltern den Brief vom jüdischen Rat erhalten, der sie dazu auffordert, sich ins Lager Westerbork zu begeben. In ein Versteck zu gehen, lehnt Evas Vater ab, weil die Familie getrennt worden wäre. „Meine Puppe durfte ich mitnehmen. Sonst war vorgeschrieben eine Wolldecke, Bettwäsche, Handtücher, Stiefel und warme Kleidung“, erzählt Eva Weyl. In Westerbork angekommen, werden sie registriert, das letzte Geld, das die Ankommenden noch besitzen, wird ihnen abgenommen. „Stacheldraht, wir sahen Stacheldraht“, schildert Eva Weyl. Und doch war Westerbork anders als die übrigen Lager.
Auch hier gibt es Überfüllung – zu Beginn ist Eva mit ihrer Mutter und 375 anderen Frauen und Kindern in einer riesigen Baracke untergebracht. In diesem unbeheizten Raum wurde geschlafen und auch gegessen. Später wird die Familie wieder zusammen in einer Unterkunft untergebracht. Eva Weyl beschreibt die Jahre im Lager als absurde Scheinwelt. Es gibt keine Sträflingskleidung. Sogar jüdische Feste dürfen gefeiert werden. Es gibt ein Krankenhaus, in dem Menschen nicht zum Sterben liegengelassen oder gequält werden, sie werden gepflegt – bis sie kräftig genug für den Weitertransport sind. „Das war der Zynismus hinter dem System“, sagt Eva Weyl.
Verantwortlich für dieses System ist der Lagerkommandant Alfred Konrad Gemekker. Er übernimmt das Lager im Oktober 1942. Insassen sagten über ihn: „Sein Vorgänger trat die Leute mit dem Stiefel nach Polen, dieser lächelt sie nach Polen.“ (Zitiert nach Ad van Liempt: Gemmeker. Commandant van Kamp Westerbork. Uitgeverij Balans, Amsterdam 2019). Auch Eva Weyl sagt: „Offene Folter gab es nicht, aber er hat Menschen, die er bestrafen wollte, auf die Deportationslisten gesetzt.“ Für Eva Weyl hat seine Geschichte eine besondere Bedeutung, denn zusammen mit der Enkelin des Kommandanten hat sie eine Zeitlang als Zeitzeugin gesprochen.
Zwei Mal steht auch die Familie Weyl auf dieser Liste, zwei Mal entgeht sie diesem Schicksal. Einmal, weil ein Mitinsasse, der in der Verwaltung arbeitet, den Namen der Familie wieder streicht. Ein anderes Mal vereitelt ein Luftangriff der Alliierten auf das Lager die Abfahrt des Zuges. Dann wird Westerbork am 12. April 1945 durch kanadische Soldaten befreit. Zwei Monate bleibt die Familie noch in Westerbork, weil sie zunächst nicht weiß, wohin sie gehen soll.
Auch die Nachkriegszeit erlebt Eva Weyl als kompliziert und widersprüchlich. In den Niederlanden wird der Familie die Einbürgerung zunächst verweigert, weil sie als Deutsche gelten. In Deutschland erweist sich der Prozess zur Wiedergutmachung der Zwangsenteignung des Kaufhauses als langwierig und zäh, denn die Richter, die darüber entscheiden, sind die gleichen wie zur Zeit des Nationalsozialismus.
Eva Weyl begann 2008, ihre Geschichte zu erzählen. Es ist gewissermaßen das Vermächtnis ihres Vaters: „Er sagte, wir müssen immer über die Vergangenheit sprechen.“
Es geht ihr vor allem darum, das Bewusstsein dafür zu wecken, dass Freiheit und Demokratie wertvolle Güter sind, die einem auch leicht genommen werden können. So richtet sie sich auch immer wieder an die Schülerinnen und Schüler: „Keiner eurer Großeltern ist verantwortlich für den Zweiten Weltkrieg, aber in eurer Verantwortung liegt es, was ihr mit dem Wissen über diese Zeit anfangt.“ Jeder Mensch sei verantwortlich für die Entscheidungen, die er treffe. Vor diesem HIntergrund verweist sie auch auf die kommende Europawahl.
Es ist das zweite Mal, das Eva Weyl die Liebfrauenschule besucht. Organisiert werden die Zeitzeugengespräche von Lehrerin Christina Pudlo. Für sie ist es wichtig, dass Schülerinnen und Schüler Geschichte aus erster Hand erfahren, „denn so fördern wir ihr Geschichtsbewusstsein“. Gleichsam werden sie zu Zweitzeuginnen und -zeugen. Die Gespräche richten sich an die Jahrgangsstufe 9, denn dort ist im Kernlehrplan für das Fach Geschichte die Zeit des Nationalsozialismus vorgesehen. Nach Absprache ist auch älteren Schülern der Besuch möglich. Die Fragen, die die Schülerinnen und Schüler Eva Weyl im Anschluss stellen, zeigen, wie sehr sie das Thema auch heute noch bewegt. Und sie merken: Für Demokratie und Freiheit muss man kämpfen – heute ebenso wie früher.