Geschenkte Aufmerksamkeit

Nicht immer wird bewusst wahrgenommen, wo Kirche „Präsenz“ zeigt – dabei ist die Vielfalt groß

Kolping lässt wachsen: In Otzenrath wird gemeinschaftlich durch eine Baumpflanzung ein Zeichen gesetzt. (c) Kolpingsfamilie Otzenrath
Kolping lässt wachsen: In Otzenrath wird gemeinschaftlich durch eine Baumpflanzung ein Zeichen gesetzt.
Datum:
14. Dez. 2022
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 50/2022

Mit der sinkenden Zahl der Priester und der Sorge vor größer werdenden Seelsorgestrukturen wächst der Eindruck, dass Kirche im öffentlichen Leben in der Gesellschaft nicht mehr sichtbar ist. Dabei gibt es an vielen Stellen im Alltag durch Vereine, Institutionen und Gemeinschaften ein gelebtes Evangelium. Im Bistum Aachen hat sich die KiZ-Redaktion auf Entdeckungstour begeben und stellt einige Beispiele vor. 

Die Öffnung ins Dorfleben und darüber hinaus ist wichtig

Von Garnet Manecke

Gerade mit Corona ist sichtbar geworden, wie sehr eine Gemeinschaft Halt geben kann – auch auf Distanz. „Zwei bis drei Mal im Monat haben wir fast alle Mitglieder angerufen, um zu fragen, wie es ihnen geht“, sagt Heinrich Küpper, erster Vorsitzender der Kolpingsfamilie Otzenrath.

Zu Ostern bekam jedes Mitglied einen kleinen Topf mit Tulpenzwiebeln, die im Frühjahr in den Kolping-Farben Orange und Schwarz blühten. „Vor ein paar Jahren haben wir 2000 Zwiebeln hier im Ort eingesetzt“, erzählt Küpper. Im Frühjahr zog sich ein orange-rotes Tulpenband durch Otzenrath.

Solche Zeichen zeigen auch denen, die sich nicht bei Kolping engagieren, dass niemand allein ist. Auch das kleine Kreuz, das jede Mitgliedsfamilie zu Ostern ein Jahr später bekommen hat, ist ein solches Zeichen der Verbundenheit. Das hat es erleichtert, als wieder das öffentliche Leben begann. „Trotzdem war es zu Anfang dieses Jahres schwierig, alles wieder anzuleiern“, sagt Küpper. „Denn bei einigen sind Ängste da, sich bei einer Präsenzveranstaltung anzustecken.“

Wo Gemeinschaft entsteht, werden Vorurteile abgebaut. Es können ein starkes Netz und Zusammenhalt entstehen. In Otzenrath und Spenrath ist ein sichtbares Symbol dafür das Friedenskapellchen, das die Kolpingsfamilie Otzenrath in der Senke zwischen den beiden Orten gebaut hat. Diese Kapelle ist der Nachfolger des Bilderstocks, den die Ortsgruppe vor der Umsiedlung in den alten Orten aufgebaut hatte. Die Kapelle ist auch ein Symbol, sich nicht vom Weg abbringen zu lassen.

Die Öffnung nach außen ins allgemeine Dorfleben und über dessen Grenzen hinaus ist ihnen wichtig. Der Weihnachtsbaum wurde zentral im Dorf aufgestellt. Alle waren eingeladen, mitzumachen. „Da waren etwa 600 Menschen, und der Zusammenhalt war fantastisch“, freut sich Küpper. Gemeinsam wurde geredet und gesungen. Eine gute Gelegenheit, wieder zusammenzukommen und die Nachbarn besser kennenzulernen.
Dazu gehören auch die Gottesdienste, die meist in der evangelischen Kirche gefeiert werden, oder die Altkleidersammlung, die einmal im Jahr stattfindet. Oder jetzt die offenen Türen im Advent, an denen sich katholische wie evangelische Familien beteiligen. In diesem Jahr wurde auch das Theaterstück wieder aufgenommen. Zwei Jahre musste die Laienspielgruppe pausieren. „Früher waren die Vorstellungen immer restlos ausverkauft. In diesem Jahr waren für die Premierenvorstellung noch 50 Karten übrig“, sagt Küpper. „Es war trotzdem wichtig, wieder loszulegen. Die Menschen auf der Bühne und im Publikum haben daran Freude.“ Und dafür ist dieser Ort von Kirche eben auch da.

Wenn am Werkstor und der Autobahn der Nikolaus steht

Aktion der KAB mit kirchlichen Partnern am „Black Friday“ vor dem Amazon-Verteilzentrum in Aachen. (c) Thomas Hohenschue
Aktion der KAB mit kirchlichen Partnern am „Black Friday“ vor dem Amazon-Verteilzentrum in Aachen.

Von Andrea Thomas

Ein kurzes Klopfen ans Fenster der Fahrerseite: „Hallo, heute ist Nikolaus, und da würden wir Ihnen gerne etwas schenken.“ So oder so ähnlich spricht eine Gruppe aus Mitgliedern des Diözesanverbands der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KaB), der Betriebsseelsorge im Bistum Aachen und des Katholikenrats Aachen an diesem Nachmittag Lastwagenfahrer an, die auf dem Rastplatz Aachener Land Nord an der A4 in Richtung Niederlande Pause machen. Sie haben Tüten mit etwas Süßem, Mandarinen und Informationsmaterial sowie als Geste und (Lkw-)Türöffner Nikolaus höchstpersönlich dabei. Einige Mitglieder der Gruppe sprechen neben Englisch und Niederländisch auch Polnisch, Rumänisch, Ungarisch oder Russisch, um mit den aus Osteuropa stammenden Fahrern ins Gespräch zu kommen.

Die Aktion ist ein Zeichen der Solidarität und Wertschätzung für diese gesellschaftlich wichtige Arbeit. Und sie will informieren. Es gibt ein komplexes EU-Regelwerk, das auf den Autobahnen für „Gleiches Entgelt für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ sorgen soll. Doch in der Praxis kann von gleichen und fairen Arbeitsbedingungen, Bezahlung, Arbeitsschutz und sozialer Sicherheit keine Rede sein. Die Fahrer und Fahrerinnen, insbesondere aus Mittel- und Osteuropa, unterliegen einem europaweiten Dumping-Wettbewerb und arbeiten oft zu prekären Bedingungen. Mit dem Beratungsnetzwerk „Faire Mobilität“ und den Beratungsstellen Arbeit in der Städteregion Aachen und dem Kreis Heinsberg, deren Flyer in den Nikolaustüten stecken, will die Gruppe über Arbeitsrechte, Schutzregelungen und Beratungsangebote informieren.

In einer ähnlichen Aktion hat die KAB mit anderen kirchlichen Einrichtungen am „Black Friday“, der Rabatt-Schlacht zum Start der Adventszeit, vor dem Amazon-Verteilzentrum in Aachen gestanden. Müsliriegel sollten Kraft schenken, die verteilten Flyer aufklären. Hier sind es drei Gruppen, die unter prekären Bedingungen tätig sind: diejenigen, die für die Transportfirmen die Waren anliefern, die im Lager arbeiten und die die Pakete ausliefern. 
Letztere sind oft Geflüchtete oder Migranten, die wenig Deutsch sprechen und diesen Job brauchen, um ihre Familien zu versorgen. Auch hier ging es um ein Zeichen von Wertschätzung, um zu zeigen: „Wir übersehen euch nicht.“ Das ehrliche Interesse an ihrer Person, daran, wie es ihnen geht, und das kleine Geschenk berührten viele. Den Rastplatz an der A4 verließ an diesem Nachmittag kaum ein LKW ohne ein freundliches Hupen für den Nikolaus und sein Helferteam.

Eine Basis schaffen

Margret Rutte. (c) privat
Margret Rutte.

Von Garnet Manecke

Als die deutschen Bischöfe den Ausstieg der katholischen Kirche aus der Schwangerschaftskonfliktberatung beschlossen, haben engagierte katholische Frauen und einige Männer selbst ein Angebot für Frauen geschaffen. Am 24. September 1999 wurde Donum Vitae gegründet. „Wir arbeiten aus unserem christlichen Selbstverständnis heraus“, sagt Margret Rutte, stellvertretende Vorsitzende von Donum Vitae Heinsberg. „Wir beraten Frauen in einer Situation, in der sie ein Kind erwarten. Wir zeigen ihnen, wo es Hilfe gibt, so dass sie eine Basis haben, auf der sie selbstbestimmt entscheiden können, das Kind zu bekommen.“

Aber, das sagt Rutte auch ganz klar, entscheidet sich die Frau dagegen, das Kind auszutragen, ist es ebenfalls eine Entscheidung, die respektiert wird. Auch in diesem Fall bekommt die Frau Hilfe an die Seite, die sie emotional stützt. „Es kommt vor, dass sich die Frau später fragt, ob die Entscheidung richtig war. Keine Frau trifft diese Entscheidung leichtfertig“, sagt Rutte.

Nächstenliebe und Barmherzigkeit seien die christlichen Werte, auf denen die Arbeit von Donum Vitae basiere. „Wir im Vorstand haben alle eine große Nähe zur katholischen Kirche“, sagt Rutte. „Wir arbeiten alle ehrenamtlich, weil es für uns ein kirchlicher Auftrag ist. Kirche muss sich in der Schwangerschaftskonfliktberatung engagieren.“

Das Beratungsspektrum, für das Donum Vitae in Heinsberg zwei Beraterinnen mit je einer halben Stelle eingestellt hat, umfasst Themen rund um Schwangerschaft und Geburt, aber auch wirtschaftliche Fragestellungen wie Kindergeld und Lebensperspektiven. Wie können Kind und Beruf oder Studium vereint werden? Hält die Partnerschaft? Wie sieht das Leben als Alleinerziehende aus? „Die Menschen brauchen auf ihrem Weg Hilfe in unterschiedlichen Formen“, sagt Rutte. „Viele Mütter suchen die Beratung, weil es ihnen psychisch nicht gut geht.“ Das sind auch Folgen der besonderen Belastungen durch Corona: Isolation, Kinderbetreuung und Home-Schooling verbunden mit Arbeit im Homeoffice. Etwa 700 Beratungen leisten die Beraterinnen jedes Jahr. „Wir sind an der Seite der Menschen, die sich in einer absoluten Ausnahmesituation befinden“, sagt Rutte.

Kirche geht durch den Magen

Tischgemeinschaft pflegen gehört mit zu den urchristlichen Traditionen. In Krefeld wird sie als „Angebot“ gelebt. (c) Kathrin Albrecht
Tischgemeinschaft pflegen gehört mit zu den urchristlichen Traditionen. In Krefeld wird sie als „Angebot“ gelebt.

Von Kathrin Albrecht

Wer an diesem Freitagvormittag das Pfarrheim St. Thomas Morus in Krefeld betritt, dem steigen köstliche Düfte in die Nase. Die Vorbereitungen für ein anschließendes Mittagessen laufen auf Hochtouren. Der große Saal ist schon eingedeckt für die erwarteten Gäste. In der Küche simmert die Suppe für die Vorspeise vor sich hin. Nebenan bereiten Adelaide Fernandez und Brigitte Schafsteller den Nachtisch zu – es gibt frittierte Quarkbällchen.

„Keiner isst allein“ heißt das Angebot, bei dem die KAB St. Thomas Morus Alleinstehende in der Krefelder Gemeinde alle vier bis sechs Wochen zum gemeinsamen Essen einlädt. Als die Gemeinde 2014 mit den Nachbargemeinden zur Pfarrei Heiligste Dreifaltigkeit fusionierte, war man auf der Suche nach einem neuen Angebot für Senioren, erzählt Ina Kuhn, über 40 Jahre Gemeindereferentin in St. Thomas Morus und Geburtshelferin des Mittagstisches. „Die Gemeinde hat einen hohen Anteil an älteren Menschen. Doch bei vielen ist die Schwellenangst, unter die Leute zu gehen, groß.“

Bei einem Fortbildungswochenende der KAB war dann der Mittagstisch geboren. Vor Corona kamen regelmäßig 20 bis 30 Menschen zum Essen. Nach der Pause läuft es ganz langsam wieder an.

Zehn sind es an diesem Mittag. Um besser planen zu können, bittet das Team um Anmeldung (Zettel dafür liegen in der Kirche St. Thomas Morus aus). Auch das Team ist ein fest eingespielter Kern von elf Leuten. „Wir kennen uns alle über die KAB“, sagt Adelaide Fernandez. Gemeinsam wird besprochen, was gekocht wird und wer einkauft. Am besten komme die rheinische Hausmannskost an. „Der Renner bei einem Essen war jedoch Labskaus“, erinnert sich Ina Kuhn. Wer mit-isst, beteiligt sich an den Kosten hinterher mit einer Spende. Da bleibe manchmal auch so viel übrig, dass das Team karitative Einrichtungen wie das Medikamentenhilfswerk Action medeor unterstützen kann. Bevor das Essen beginnt, wird ein kurzes Gebet gesprochen. Dann wird gegessen und geplaudert. Es ist allen anzusehen, dass sie Freude an der Veranstaltung haben. „Kirche braucht solche Orte mehr denn je, wo neue Formen gesucht werden, wie Glaube gelebt werden kann“, ist sich Ina Kuhn sicher. 

Ich war krank, und ihr habt mich besucht

Einige Damen und Herren des Teams der Aachener Klinikhilfe. (c) Uniklinik RWTH Aachen
Einige Damen und Herren des Teams der Aachener Klinikhilfe.

Von Ruth Schlotterhose

„Wie geht es Ihnen?“ Mit einem freundlichen Gruß betritt der Arzt das Krankenzimmer im Aachener Klinikum. Ein Arzt? Im lindgrünen Kittel? Ein zweiter Blick auf den groß gewachsenen Mann mit dem offenen Lächeln weist ihn als Mitarbeiter der ökumenischen Klinikhilfe aus. Von den sogenannten „Grünen Damen und Herren“ habe ich doch schon gehört …

Seit drei Tagen halte ich mich als Begleitung eines Verletzten in der Uniklinik auf. Der Patient dämmert die meiste Zeit vor sich hin. Schwestern und Mediziner versorgen ihn ausgezeichnet, die Gespräche mit ihnen drehen sich um den Genesungsprozess des Kranken. Plötzlich ist jetzt jemand da und fragt mich, wie es mir geht. Zum ersten Mal kann ich dem Schock, den mir die Verletzung des Patienten versetzt hat, Ausdruck verleihen, kann ich meine Sorgen um das Wohlbefinden des Verletzten in Worte fassen. Das Gespräch dauert nur wenige Minuten, höchstens eine Viertelstunde, aber anschließend fühle ich mich – ja, wie eigentlich? Auf Anhieb fallen mir Worte wie „ermutigt“ oder „getröstet“ ein.

„Wenn Sie schon einmal als Patient im Klinikum Aachen waren, haben Sie uns vielleicht kennengelernt. Montags bis freitags jeweils im Vormittag besuchen wir Patienten und schenken ihnen unser Ohr für kleine und große Sorgen.“ So heißt es auf der Homepage der Aachener Klinikhilfe. Zwar ist die Einrichtung ein gemeinsames Projekt der Diakonie und der Caritas, und natürlich liegt den Einsätzen der Helferinnen und Helfer ein christliches Menschenbild zugrunde. Missionierung gehört jedoch nicht zu ihren Aufgaben. Hier kann jeder mitmachen, dem Barmherzigkeit und Menschlichkeit ein Anliegen ist – gleich welcher Nationalität oder Religion er angehört.

Bisher gehörte ich zu den Skeptikern, die sich gefragt haben, was denn ein Krankenhauspatient vom Besuch eines fremden Menschen halten mag. Jetzt weiß ich, dass diese Form der Anteilnahme eine durchaus positive Wirkung haben kann. Hier wird Kirche sichtbar in einer ihrer ursprünglichsten Formen. Haben wir davon nicht im Evangelium vom Weltgericht schon einmal gehört: „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid […] Ich war krank, und ihr habt mich besucht“ (Mt 25,34.36)?