Wer Barbara gefragt hat, wie es ihr geht, bekam eine einfache Antwort: „Gut.“ Sie hat niemandem erzählt, dass sie in der Notunterkunft lebt, weil sie keine eigene Wohnung mehr hat. Dass sie Bürgergeld bezieht, weil sie ihren Beruf nicht mehr ausüben konnte; dass sie sich schämt, aber auch Angst hat. Dass sie anderen Menschen lieber aus dem Weg geht. Schon gar nicht hat sie erzählt, dass sie mehrere Therapien gemacht hat, um ihre Alkoholsucht in den Griff zu bekommen.
Das Leben auf der Straße aber macht dies nicht leichter. Es gab Rückfälle. „Mein Leben ist meine Sache“, sagt die 40-Jährige. Und das Leben lief zuletzt nicht rund. Ein Einzelfall? Wohl kaum. Geschätzt leben rund 50 000 Männer und Frauen in Deutschland obdachlos auf der Straße. Etwa eine halbe Million Menschen ist wohnungslos und auf Notunterkünfte und andere Einrichtungen angewiesen. Tendenz steigend. Das Gespräch mit Barbara, die ihren echten Namen nur ungern in der KirchenZeitung lesen möchte, findet in den Beratungsräumen des Dürener Vereins In Via statt, der verschiedene Einrichtungen und Angebote für wohnungslose Menschen im Kreis Düren anbietet.
In Via betreibt unter anderem die Bahnhofsmission in Düren, die Kontaktcafés „Café Lichtblick“ und „Café Gemeinsam“, eine Fachberatungsstelle, eine Notunterkunft/
Notübernachtung in Düren sowie ein Wohnheim und Angebote des Betreuten Wohnens. Mit am Tisch sitzen Francesca und Dominik, die ebenfalls lange Zeit ohne festen Wohnsitz waren. Francesca hat sogar vier Jahre lang auf der Straße gelebt. Viele Menschen verlieren ihre Wohnung, wenn sie ohne eigenes Verschulden und Zutun soziale Probleme haben oder Krisensituationen erleben. Davon können alle drei berichten. Und davon, wie es sich anfühlt, ausgegrenzt zu sein, langsam aber sicher das Selbstwertgefühl zu verlieren. Und was ihnen geholfen hat, wieder das Steuer in die Hand zu nehmen, um mit Unterstützung von In Via einen Platz im Betreuten Wohnen zu erhalten.
Barbara – selbst lange wohnungslos
Mehrere Schicksalsschläge ließen Barbaras Leben wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Es gab keinen plötzlichen Einsturz. Vielmehr brachen nach und nach die Stützpfeiler zusammen, bis die gesamte Konstruktion nicht mehr hielt. Die Altenpflegerin lebte mit ihrem Lebensgefährten zusammen, als das Schicksal das erste Mal zuschlug und ihr Partner nach einem Herzinfarkt ins Wachkoma fiel.
Die ersten Monate übernahm sie selbst die Pflege – und wurde während der folgenden neun Jahre selbst krank. „Zu dieser Zeit setzten die Depressionen ein“, blickt sie zurück. Als „alles ein bisschen schwierig wurde“, stieg sie abends von Wein auf Wodka um, um wenigstens für einen kurzen Zeitraum vergessen zu können. Es war der Start einer Abwärtsspirale, aus der sie ohne eigene Kraft nicht mehr ausbrechen konnte. Ihr Weg führte sie aus einer Großstadt nach Düren, wo sie Unterstützung bei In Via erhielt – und einen Platz in einer Wohngemeinschaft. „Ich möchte einen Neustart machen“, sagt sie. Seitdem sie in der WG wohnt, trinke sie nicht mehr. Ihr Ziel ist es, wieder auf eigenen Füßen stehen zu können, wieder in ihrem Beruf arbeiten zu können.
„Ich konnte nicht mehr, ich wollte nicht mehr“, ist Francesca froh, nach vier Jahren auf der Straße einen Platz im Betreuten Wohnen bekommen zu haben. Sie wurde obdachlos, weil sie sich von ihrem Ex-Mann trennen wollte, er sich aber nicht von ihr. „Es kam eins zum anderen“, blickt sie nur ungern zurück. Plötzlich stand sie vor der Tür. Und je länger man ausgeschlossen ist, desto schwieriger wird es, eine Wohnung zu finden. „Ich habe es ziemlich oft probiert – und irgendwann Lust und Vertrauen verloren“, sagt Francesca. Sie kam zunächst bei Bekannten unter und musste feststellen: Eine Leistung gibt es nur selten ohne Gegenleistung. „Da bin ich lieber auf die Straße gegangen und habe mich versteckt“, berichtet sie. Sie hielt sich fern von Menschen, war permanent unterwegs. „Du musst gerade als Frau die Kontrolle auf der Straße behalten“, erklärt Francesca. Ihre eigene Gesundheit vernachlässigte sie. Sie erblindete auf einem Auge. „Du verlierst schnell das Selbstwertgefühl. Am besten ist man immer still. An der Gesellschaft nimmst du sowieso nicht mehr teil. Du triffst nur Leute, die in der gleichen Lage sind.“ Wer die Erfahrung gemacht hat, in bitterer Kälte nachts aus einem Zelt geworfen zu werden, wisse, dass man „viel mit sich machen lässt“, um zu überleben. Ein Leben voller Angst, das sie zurücklassen möchte.
„Nur wenige Menschen sind ohne Hintergedanken“, musste auch Dominic erfahren, der mit dem Tod seiner Mutter obdachlos wurde und ebenfalls zunächst bei Bekannten unterkam und dort keine guten Erfahrungen machte. Er habe schon früh mit häuslicher Gewalt zu tun gehabt, rutschte „in die kriminelle Schiene ab“, sammelte Bewährungsstrafen und saß auch schon einmal im Gefängnis. In Düsseldorf begann er eine Ausbildung, die er auch durchzog. Doch als er zur Pflege seiner Mutter ins „alte Umfeld“ zurückkam, wurde er rückfällig, konsumierte auch wieder Drogen. „Ich möchte neu anfangen“, freut er sich, bei In Via die Chance dafür zu erhalten.
„Das Betreute Wohnen ist ein sehr niederschwelliges Angebot und kann ein Sprungbrett sein, selbst wieder Fuß zu fassen“, erklärt Romina Schlößer, stellvertretende Geschäftsführerin von In Via. Der erste Kontakt mit potenziellen Klientinnen und Klienten kommt oft aus der Notunterkunft oder wird über die Fachberatung hergestellt. Die Kosten übernimmt der Landschaftsverband Rheinland. In Via unterstützt bei der notwendigen Antragstellung. Das Team hilft den Bewohnerinnen und Bewohnern dabei, die finanziellen Dinge zu regeln und die wirtschaftliche Lebensgrundlage zu sichern, die notwendigen Behördengänge zu erledigen.
„Es geht um Stabilisierung und Unterstützung“, sagt Romina Schlößer. Wer keine Wohnung habe und den Tag irgendwie auf der Straße überstehen müsse, habe nur in den wenigsten Fällen „einen Kopf dafür“, sich um Anträge und Formulare zu kümmern. Unterstützung von In Via gibt es darüber hinaus auch bei Themen der Gesundheit und beispielsweise bei der Suche nach Therapiemöglichkeiten. Perspektivisch ist das Betreute Wohnen der erste und vielleicht wichtigste Schritt, das Leben wieder in geordnete Bahnen zu bringen, eine eigene Wohnung zu finden (und zu halten!) und auch wieder selbst den Lebensunterhalt erwirtschaften zu können. Schritt für Schritt geht es in ein neues Leben.
Der Katholische Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit Düren-Jülich e.V. In Via bietet seit mehr als 25 Jahren viele verschiedene Einrichtungen und Angebote für wohnungslose Menschen im Kreis Düren an. Die Beratungsstelle in der Dürener Innenstadt, August-Klotz-Str. 16, ist unter Tel. 02 4 21/20 34 50 (E-Mail: beratung@invia-dn.de) zu erreichen. Beratungszeiten sind Montag, Dienstag, Mittwoch von 9 bis 13 Uhr, Donnerstag von 9 bis 13 Uhr und 14 bis 16.30 Uhr, Freitag von 9 bis 12 Uhr.
Die Jülicher Beratungsstelle befindet sich im „Café Gemeinsam“, Stiftsherrenstr. 9, und ist zu erreichen unter Tel. 02 4 61/8 05 98 72 (E-Mail: fachberatung-juelich@invia-dn.de). Beratungszeit ist Dienstag und Mittwoch von 9 bis 12 Uhr.