Gegen das Vertuschen

Der Interventionsbeauftragte Helmut Keymer leitet das Fallmanagement bei Verdacht auf sexuelle Gewalt

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Datum:
27. Okt. 2020
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 44/2020

In den kommenden Wochen will das Generalvikariat ein Gutachten über das Ausmaß an sexuellem Missbrauch im Bistum Aachen veröffentlichen. Im Vorfeld spricht die KirchenZeitung mit dem Interventionsbeauftragten Helmut Keymer darüber, wie die Interessen Betroffener in den Mittelpunkt gestellt werden, über den Unterschied zwischen staatlichen und kirchlichen Verfahren und den schwierigen Umgang mit Tätern.

Helmut Keymer ist der Interventionsbeauftragte im Bistum Aachen. Er koordiniert die Prozesse mit allen Beteiligten, wenn ein Verdachtsfall angezeigt wird und untersucht werden muss. (c) Garnet Manecke
Helmut Keymer ist der Interventionsbeauftragte im Bistum Aachen. Er koordiniert die Prozesse mit allen Beteiligten, wenn ein Verdachtsfall angezeigt wird und untersucht werden muss.

Herr Keymer, Sie sind seit 1. April dieses Jahres Interventionsbeauftragter im Bistum Aachen. Was sind Ihre Aufgaben?

In ein Bild gepackt, bedeutet das: Prävention ist Brandschutz, die Intervention ist die Feuerwehr. In konkreten Fällen, bei denen es um sexualisierte Gewalt geht, übernehme ich das Fallmanagement. Ich sehe, dass wir dabei alle Beteiligten im Blick haben. Das Ziel ist immer zuerst, die Betroffenen wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Die Ansprechpersonen bieten Hilfe und Unterstützung an. Auf die Beschuldigten zu sehen, heißt, weder zu vertuschen noch sie vorzuverurteilen. Die Prüfung der Vorwürfe und die Bewertung der Ermittlungsergebnisse ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Auch das irritierte Umfeld, also die Menschen vor Ort in der  betroffenen Gemeinde oder dem Kindergarten, erhalten Angebote zur Hilfe und Unterstützung.

 

Beim Thema Missbrauch in der Kirche hat man meist Priester als Täter vor Augen. Aber es ist nicht immer der Geistliche, dem Taten vorgeworfen werden.

Nein, alle Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft können die Unterstützung des Interventionsbeauftragten in Anspruch nehmen. Also zum Beispiel auch Kindergärten, Altenheime, Schulen und Krankenhäuser. In der Regel haben die Einrichtungen ein institutionelles Schutzkonzept und der dort aufgeführte Verhaltenskodex gilt für alle Mitarbeitenden. Aktuell habe ich gerade zwei Fälle auf dem Tisch, in denen es um Kindergärten geht, und einmal ging es um ein Altenheim.

 

Inwiefern?

In einem Kindergarten ging es um einen sexuellen Übergriff unter Kindern, der von den Eltern an die Öffentlichkeit gebracht wurde. Es gab eine Elternversammlung, an der aber der Träger nicht teilnahm. Er hat aber die Aufgabe, seine Verantwortung zu übernehmen. Vielleicht noch ein Stichwort zur Interventionsstelle: Wichtig sind drei Punkte. Punkt eins ist die Transparenz: Es darf keine Vertuschung oder Verschleierung geben. Die Maßnahmen des Bistums müssen begründet und kommuniziert werden. Das hat natürlich Grenzen, wenn zum Beispiel eine Gemeindeversammlung fragt, was der Beschuldigte im Detail gemacht hat. Punkt zwei ist die Koordinierung: Ich sorge dafür, dass die einzelnen Interventionen zum Beispiel der Personalabteilung koordiniert und aufeinander abgestimmt sind. Punkt drei bedeutet, Spannungen auszuhalten. Wenn es konkret um sexualisierte Gewalt geht, geht es immer um starke Emotionen. Es gibt den Wunsch, schnelle Lösungen zu realisieren, und gleichzeitig brauchen eine sorgfältige Ermittlung und das staatliche Verfahren Zeit.

 

Aber es dürfte doch schwierig sein, das alles so zu steuern. Beim Fall in Mönchengladbach wurde schon zu Beginn der Umgang der Bistumsleitung mit dem Priester kritisiert. Viele Gottesdienstbesucher in den betroffenen Gemeinden empörten sich über eine Vorverurteilung durch das Bistum. Wie wollen Sie es schaffen, dass in dem Verfahren alle die Nerven behalten und das Pendel von der Vertuschung nun nicht in das andere Extrem ausschlägt?

Sie meinen die veröffentlichte Bewertung, dass der Priester ein Nähe-Distanz-Problem gehabt hat. Es ist richtig, dass diese Bewertung aus der Personalakte eigentlich nicht an die Öffentlichkeit gehört. Inzwischen werden wir sofort, wenn ein aktueller Fall bekannt wird, einen Krisenstab einberufen. Hier treffen sich die Verantwortlichen der Personalabteilung, der Rechtsabteilung, der Kommunikationsabteilung und der Abteilung Pastoral, Schule, Bildung, um alle notwendigen Schritte zu beraten und die notwendigen Maßnahmen zielgerichtet aufeinander abzustimmen. Die Geschäftsführung des Krisenstabs liegt in der Verantwortung des Interventionsbeauftragten. Wir arbeiten daran, die Abläufe zu beschreiben und die einzelnen Schritte festzulegen.

 

Aber geht bei Standardisierungen nicht die Glaubwürdigkeit verloren? Das ist doch dann nicht mehr authentisch?

Jeder Fall ist anders und muss für sich betrachtet werden. Das Konzept ist eine Landkarte, das ist nicht die Landschaft. Die ist immer anders. Die Karte hilft, sich zu orientieren. Ich habe keine zwei Fälle erlebt, die identisch waren.

 

Wie viele Fälle haben Sie in den vergangenen sechs Monaten seit Ihrem Antritt auf den Tisch bekommen?

Beim Umzug der Fachabteilung PIA (Prävention, Intervention, Ansprechpartner, Anm. der. Red.) habe ich 86 Fallakten von Betroffenen, die Anträge auf Anerkennung des Leids gestellt haben, übernommen. Einige der Fälle, die ich jetzt bearbeitet habe, sind alte Fälle. Ein alter Fall zum Beispiel ist ein Pfarrer, der mit der Auflage pensioniert worden ist, dass er keine sakramentalen Handlungen mehr durchführen darf. Nun hat uns eine Betroffene darauf hingewiesen, dass er das doch macht. Ich habe daraufhin recherchiert und mit ihm gesprochen. Es rufen auch Betroffene an, die ihre Erfahrungen erzählen wollen. Ihnen ist wichtig, dass die Kirche diese Erfahrungen ernst nimmt und dokumentiert. In vier Anfragen ging es um schwierige Situationen in Kindergärten. Sowohl um Doktorspiele unter Kindern als auch um unklare Situationen mit Mitarbeitern. Ungefähr zehn Betroffene haben sich gemeldet. Aus einem Altenheim habe ich einen Fall auf dem Tisch. 

 

Aber im Kindergarten sind Körperkontakte nicht immer zu vermeiden. Manchmal muss ein Kind getröstet und in den Arm genommen werden. Wie findet man heraus, wo die Grenze überschritten wurde?

Alle Erzieherinnen in katholischen Kindergärten und Familienzentren haben an einer zweitägigen Präventionsschulung teilgenommen. Ziel dieser Schulung ist es, für das Thema sexualisierte Gewalt zu sensibilisieren, Kompetenzen für den Umgang mit schwierigen Situationen zu gewinnen und eine Kultur der Achtsamkeit zu entwickeln. Alle nehmen nach fünf Jahren an einer Vertiefungsschulung teil, und alle Kindergärten haben ein Schutzkonzept. Der Interventionsbeauftragte wird aktiv, wenn es einen konkreten Vorfall gibt. Zum Beispiel stellt eine Mutter bei ihrem Sohn fest, dass er Schmerzen am Geschlecht hat. Auf Nachfrage nennt der Junge den Namen eines Erziehers, der ihn dort angefasst haben soll. Der Kinderarzt rät, Anzeige zu erstatten. Die Polizei ermittelt, was passiert ist. Als Interventionsbeauftragter berate ich den Träger und die Leitung, welche Schritte jetzt notwendig sind. Vor allem, wenn es Nachfragen der Eltern oder der Öffentlichkeit gibt. Mitarbeiterinnen kennen auch die perfide Täterstrategie, dass sie von Leuten beschuldigt werden, die selbst missbrauchen. Die wollen dann von sich ablenken. Noch etwas anderes ist es, wenn Mitarbeiterinnen mitbekommen, dass Kinder misshandelt werden. Das sehen sie an Wunden und blauen Flecken. Dann wenden sie sich an spezielle Beratungsstellen, um ihr weiteres professionelles Handeln abzustimmen.

 

Sie sprachen das Verhalten unter Kindern an. Gerade im Kindergarten sind sie doch in einem Alter, in dem sie ihre Körper entdecken. Wo ziehen Sie denn die Grenze zwischen prüden Vorstellungen und Missbrauch?

„Gott hat die Sexualität gewollt. Er wollte uns nicht damit ärgern.“ Wilhelm Bruners gibt mit diesem Satz die Richtung an. Als katholische Einrichtung geht es darum, die schöne, kreative, lustvolle und beziehungsfördernde Seite der Sexualität zu fördern und zu ermöglichen. Viele katholische Kindergärten haben ein gutes sexualpädagogisches Konzept. Hier geht es um Werte, die Entdeckung und Wertschätzung des Körpers und der Körperlichkeit, um Persönlichkeitsentwicklung, Geschlechteridentität, Selbstbestimmung, Beziehungsgestaltung und das Setzen und Einhalten von Grenzen. Sexuelle Gewalt ist die Missachtung des Selbstbestimmungsrechtes von Mädchen und Jungen, von Frauen und Männern. Dabei kann es um Grenzverletzungen, Übergriffe und sexuelle Handlungen gehen.

 

Wie sieht es in Altenheimen aus? Während der Besuchsbeschränkungen durch Corona im Frühjahr haben viele Menschen gelitten. Gerade bei Dementen hat der fehlende 
Kontakt wie durch Umarmungen zur Verschlimmerung ihres Zustands geführt.

Menschen sind soziale Wesen und brauchen Berührung, Kontakt und Zuwendung. Für alte und kranke Menschen ist es heilsam, gesehen, angesprochen und berührt zu werden. Vielen Bewohnern in Altenheimen fehlt der Kontakt, und sie erleben Einsamkeit und Isolation. Auch in Altenheimen gibt es sexualisierte Gewalt. Deshalb ist es gut, dass alle katholischen Einrichtungen ein Schutzkonzept entwickelt haben. Damit ist das Thema aus der Tabuzone heraus und wird besprechbar. In dem Fall, den ich bearbeite, zeigte ein Mitarbeiter einem Bewohner wiederholt und ungefragt pornografisches Material. In seiner Not hat sich der Betroffene an die Heimleitung gewandt. Der Träger hat sich bei mir gemeldet, und wir haben die weiteren Schritte beraten. Der Bewohner wird ermutigt, eine Strafanzeige zu stellen. 

 

Bald wird das Gutachten zu Missbrauchsfällen im Bistum Aachen veröffentlicht. Generalvikar Andreas Frick hat bereits mehrfach gesagt, dass dann die Geschichte des Bistums umgeschrieben werden müsste. Welche Auswirkungen auf Ihre Arbeit erwarten Sie durch die Veröffentlichung?

Im Gutachten wird stehen, welche Rolle die Verantwortlichen spielten. Da werden auch klar Namen genannt. Ich rechne damit, dass sich Betroffene melden, die froh sind, dass endlich öffentlich benannt wird, wer Verantwortung hatte. Wir hoffen, dass sich auch weitere Betroffene melden, die bisher geschwiegen haben. So, wie es auch ab 2010 war, als zum ersten Mal eine größere Anzahl von Missbrauchsfällen in Deutschland bekannt wurde. Es werden sich auch Menschen melden, die vor Ort in Gemeinden und Gruppen engagiert waren und die fragen: Warum hat uns keiner etwas gesagt? Sicher wird es auch Menschen geben, die finden, jetzt ist genug über sexualisierte Gewalt gesprochen worden, die Vergangenheit soll man ruhen lassen.

 

Erwarten Sie, dass mit der Veröffentlichung des Gutachtens der oft spürbare Generalverdacht gegen Priester und Kirche noch verstärkt wird?

Viele werden sich in ihrer Meinung von Kirche als Tätergesellschaft bestätigt fühlen und sagen, dass viel zu langsam agiert wird. Aber seit 2010 haben im Bistum Aachen etwa 60000 ehren- und hauptamtliche Mitarbeitende an Präventionsschulungen teilgenommen. Kirchliche Rechtsträger haben Schutzkonzepte. Die Kirche ist in einem Lernprozess, damit nicht mehr die Interessen der Institution, sondern die Erfahrungen der Betroffenen im Mittelpunkt stehen. Ich erwarte, dass Menschen über die Ergebnisse, dass Verantwortliche vertuscht und weggesehen haben, erschrocken sind. Darin liegt viel Sprengkraft. Aber es gibt auch jene, die sagen, dass die Kirche Vorreiter bei der Aufarbeitung ist. Sexuelle Gewalt gibt es ja nicht nur in der Kirche, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Gruppen. Aber die Kirche ist dabei aufzuräumen und mit und für Menschen eine Kultur der Achtsamkeit zu entwickeln.

 

Es wird oft darauf hingewiesen, dass Missbrauch nicht nur in der Kirche vorkommt. Aber der Kern der christlichen Botschaft ist die Nächstenliebe und der Schutz der Schwachen. Muss man da nicht an Kirchenvertreter höhere Maßstäbe setzen?

Kirche als moralische Institution hat eine besondere Fallhöhe. Der Hinweis auf andere Gruppen ist keine Entschuldigung. Wir müssen uns unserer Verantwortung stellen. Es geht zwar auch um Sexualität, aber es geht vor allem um Macht. Wie können Strukturen so verändert werden, dass die Machtverhältnisse geändert werden, mehr Transparenz und Beteiligung entstehen? Das Thema Macht ist in der Kirche tabuisiert. Wir dienen ja.

 

Warum haben Sie sich für den Wechsel zur Interventionsstelle entschieden, statt die letzten zwei Jahre Ihres Berufslebens vergleichsweise gemütlich in der Erwachsenenbildung zu bleiben?

Ein wichtiger Grund für mich ist: Ich glaube, dass Bischof und Generalvikar wirklich etwas verändern wollen. Da ist Bewegung drin, und ich kann den Prozess aktiv gestalten. Das Thema begleitet mich seit 1992. Ich bin froh, dass sich jetzt endlich etwas ändert und verbessert. Für den Aufbau der Interventionsstelle glaube ich, ein paar Kompetenzen zu haben, die nützlich sind. Ein Aspekt der Interventionsstelle ist ja auch, dass ich mit Tätern zu tun habe. Wir gründen gerade eine Arbeitsgruppe „Bewährung“. Die soll Antworten auf die Frage finden, was mit Tätern zu tun ist, die Auflagen haben oder eine Strafe verbüßt haben.

 

In den vergangenen Jahren wurden auch im Bistum Aachen Priester wegen Missbrauchs verurteilt. Kann es für sie überhaupt noch einen Platz in der Kirche geben?

Es ist doch so: Ich verurteile die Tat, aber nicht die Person. Jeder, der eine Tat begangen hat, muss dafür zur Verantwortung gezogen werden. Um als Seelsorger arbeiten zu können, braucht der Priester einen Vertrauensvorschuss, genauso wie zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer. Ein Täter hat dieses Vertrauen nicht mehr. Es gab die Lösung, sie wegzuschicken, dann gibt es aber auch keine Möglichkeit mehr, sie zu kontrollieren. Oder ist es besser, in der Kirche eine Aufgabe zu suchen, an der kein Schaden angerichtet werden kann, und sie können begleitet und kontrolliert werden? Ein richtiges Dilemma.


Wie läuft das ab, wenn jemand einen Missbrauch meldet?

Wenn sich irgendwo im System Betroffene oder Angehörige melden, soll PIA die Stelle sein, die dafür zuständig ist. Hier ist geregelt, dass der Fall auch untersucht wird und nicht versandet. Die Ansprechpersonen sind wichtig: Sie stehen an der Seite der Betroffenen und unterstützen sie, ihre Interessen wahrzunehmen. Dabei haben sie die Grundhaltung „Ich glaube dir“. Der Beschuldigte wird damit konfrontiert und die Staatsanwaltschaft ermittelt. Das Gespräch mit dem Betroffenen führt der Interventionsbeauftragte unter Beteiligung der Personalabteilung. Etwas anders ist es, wenn die Betroffenen direkt Anzeige bei der Staatsanwaltschaft stellen. Dann dürfen wir mit ihnen keinen Kontakt aufnehmen wegen der Gefahr der Beeinflussung.

So war das zum Beispiel im Fall von Mönchengladbach. Erst wenn das staatliche Verfahren abgeschlossen ist, kommt das kirchliche Verfahren. Auch wenn es zu keiner Verurteilung im staatlichen Verfahren kommt, kann es eine im kirchlichen geben. Es gibt ja Handlungen, die juristisch nicht relevant sind, aber trotzdem nicht in Ordnung. Dann ist der Beschuldigte im juristischen Sinn zwar unschuldig, im Sinn des Verhaltenskodex eines Schutzkonzeptes liegt aber ein Fehlverhalten vor.

 

Wenn also bei einem Pfarrer das Telefon klingelt und Sie sind dran, weiß er sofort, dass die Situation ernst ist.

Sie rufen jedenfalls sehr schnell zurück.

 

Das Gespräch führte Garnet Manecke.

 

Zur Info

Ansprechpersonen agieren als Anwalt der Betroffenen und stehen ihnen während des Verfahrens zur Seite. Zur Zeit gibt es mit Herbert Dejosez und Martina Eß zwei, die diese Aufgabe übernehmen. Das Bistum sucht weitere Frauen und Männer aus den Bereichen Justiz, Medizin, Pädagogik, soziale Arbeit, Psychologie oder Theologie.
Informationen dazu gibt Helmut Keymer telefonisch unter der Nummer 02 41/45 28 90 oder per E-Mail: helmut.keymer@bistum-aachen.de.