Der Mann lehnt seinen Kopf zurück und schließt genießerisch die Augen, während „Kalle“ mit dem Rasierer konzentriert über sein Kinn fährt. Der Fotograf Andreas Prömpler hat die berührende Szene festgehalten, in dem „Kalle“ dem Unbekannten seine Würde zurückgibt.
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob es sich hier um eine alltägliche Szene in einem Barbier-Shop handelt. Aber sie ist nicht alltäglich: Weder für den Mann, der sich einen Frisörbesuch nicht leisten kann, noch für die Barber Angels Kevin Cortese, auf dessen Kutte der Name „Kalle“ steht, oder für Andreas Prömpler, der den Einsatz der Barber Angels in der Mönchengladbacher Citykirche in Fotos dokumentiert.
Wenn die Engel im Einsatz sind, stehen diejenigen im Mittelpunkt, die sonst am Rande der Gesellschaft leben: Obdachlose und andere Menschen, die bedürftig sind. Sie leben von Bürgergeld oder vom Betteln, manchmal von beidem. Ein Frisörbesuch ist für sie ein unerschwinglicher Luxus. Den erleben sie nun hier in der Citykirche. Über 30 Gäste, Frauen und Männer jedens Alters, sind heute gekommen, um sich die Haare machen zu lassen. „Wenn sie den Frisörumhang tragen, sieht man keinen Unterschied zu den Kunden im Salon“, sagt Cortese, der in Dormagen einen Salon hat. Er ist Zenturio, der Teamleiter des Barber Angels Chapter NRW-Mitte. In seiner Freizeit organisiert Cortese die Einsätze in seiner Region.
Ein großer Tisch steht in der Citykirche, an dem mehrere Stationen eingerichtet sind: Dutzende Dosen mit Haarschaum und -spray sowie Rasier- und Frisiercreme stehen darauf, an jeder Station liegt ein Spiegel, in dem die Gäste am Ende das Ergebnis bewundern können. Alles, was sie für ihren Einsatz brauchen, bringen die Frisier-Engel mit. Drei Stunden schneiden die acht Barber Angels im Akkord Haare und trimmen Bärte.
Dazu kommen die Engel, die nicht schneiden. Sie empfangen die Gäste und platzieren sie, packen die Goodie-Bags mit Haarpflege-Produkten und verteilen sie an die Gäste.
Die Atmosphäre ist gelöst, es wird viel gelacht. „Unsere Gäste sind eigentlich immer sehr gut gelaunt“, sagt Cortese. „Sie freuen sich sehr, wenn wir kommen. Die feiern das sogar.“ Seit er sich bei den Barber Angels engagiert, sehe er die Obdachlosen mit anderen Augen. „Früher waren das für mich einfach Penner“, sagt Cortese. „Wer das heute in meiner Gegenwart sagt, bekommt einen Vortrag darüber, dass das kranke Menschen sind, die irgendetwas aus der Bahn geworfen hat.“
Er habe früher selbst Drogen konsumiert, sagt Cortese. „Ich weiß, wie sich die Menschen fühlen und wie schwer es ist, davon wieder loszukommen.“ Dann habe er einen Burnout gehabt. „Bevor ich wieder in den Salon zurückgekehrt bin, bin ich zu den Barber Angels gegangen“, sagt Cortese. Anderen zu helfen, helfe auch einem selbst. „Durch diese Begegnungen habe ich schon oft gesehen, wie gut es uns geht“, sagt der Frisör.
Auch zu sehen, wie gut der Einsatz den Gästen tut, gebe ihm immer wieder neue Kraft für seinen Alltag. „Die lassen ihre Angst los und fallen dann in einen Moment der Entspannung“, sagt Cortese. „Wer weiß, wann diese Menschen das letzte Mal verwöhnt wurden? Die inhalieren das richtig.“
Jeden könne es gesellschaftlich aus der Bahn tragen, ist Cortese überzeugt, nachdem er die Geschichten seiner Gäste gehört hat. Drogenkonsum und Suchtfalle, der Tod eines geliebten Menschen, traumatische Kriegserlebnisse oder durch ein Verbrechen, Arbeitslosigkeit und schwere Krankheiten: Der Weg von einem Leben im Wohlstand zu einem Leben auf der Straße oder der Abhängigkeit von Sozialleistungen kann kurz und steil bergab gehen. Dann geht es oft nur noch um das nackte Überleben.
Das hat auch Claus Niedermaier gedacht, als der Frisörmeister aus Biberach an der Riß die Barber Angels Brotherhood gründete. Er sah einen Film über einen erfrorenen Obdachlosen. „Ich habe gedacht, was kann das Handwerk tun?“, erinnert sich Niedermaier. „Wir wollten den Menschen mit einem neuen Haarschnitt die Möglichkeit geben, optisch wieder in die Gesellschaft einzuschmelzen.“
Damals waren sie nur eine Handvoll Kollegen. Aber schnell wurde der Kreis größer. Heute sind sie weltweit über 900 Barber Angels, davon sind 480 in Deutschland aktiv. In acht Ländern in Europa und Südamerika bestehen Chapter, wie die regionalen Einheiten der Barber Angels genannt werden. In Griechenland, als neuntes Land ist gerade ein Chapter an den Start gegangen. In den USA wird gerade ein Chapter gegründet, sie sind dann das zehnte Land auf der Barber-Angels-Landkarte. „Als Gründer bestätige ich die jeweiligen Länder-Chapter und fliege auch zum ersten Einsatz“, sagt Niedermaier.
Unterstützt werden die Barber Angels durch Sponsoren und Spenden. Dennoch legt jeder Engel aus der eigenen Tasche noch einiges drauf. „Sie reisen auf eigene Kosten, geben ihre Zeit und ihre Fähigkeiten“, sagt Niedermaier. „Unsere Währung ist die Dankbarkeit unserer Gäste.“ Für seine Idee und sein Engagement ist Niedermaier im September 2024 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden.
Hubertus Heil, damals Bundesminister für Arbeit und Soziales, hat es ihm bei einem Festakt überreicht. Niedermaier kam standesgemäß in Kutte. „Vorab habe ich ihm gesagt: ,Hubertus, ich kann es nur in Kutte entgegennehmen‘“, erzählt Niedermaier. „In Berlin ist das Tragen von Kutten ja verboten. Aber der Hubertus hat gesagt, dass innerhalb des Ministerium-Gebäudes das Hausrecht gelte und so ging es dann.“ So nahm Niedermaier in seiner Kutte die Auszeichnung entgegen. „Die ist für unser ganzes Team, denn ich mache das ja nicht alleine“, sagt er.
Ein Engel der ersten Stunden ist Nicole Nysten aus Erkelenz. „Ich habe 2016 bei Facebook einen Aufruf gesehen und mich direkt gemeldet“, sagt die Frau mit den langen, leuchtend roten Haaren. „Ich war der achte oder neunte Barber Angel.“ Anfangs war sie bei ihren Einsätzen in ganz Deutschland unterwegs. Heute ist sie President des niederländischen Chapters. Zu etwa acht Einsätzen fährt sie im Jahr, immer montags, wenn ihr eigener Salon in Erkelenz geschlossen ist. Zu ihren Einsätzen an der Schere kommen Messen der Branche, auf denen sie Kollegen von den Barber Angels erzählt. Auch ihre Mitarbeiterinnen gehören zum Team des Chapters Sittard.
Der Club ist immer auf der Suche nach Kollegen, die die „Bruderschaft“ unterstützen wollen. „Niemand lebt freiwillig aus Überzeugung auf der Straße“, sagt Nysten „Das sind oft sehr traurige und berührende Geschichten.“ Jedes Mal, wenn sie im Einsatz ist, fühlt sie die große Dankbarkeit ihrer Gäste. „Menschen auf der Straße wollen am liebsten unsichtbar sein“, stellt sie immer wieder fest. „Sie schämen sich, dass sie nicht gepflegt sind.“
Oft kämen ihre Gäste mit gebeugter Körperhaltung und ohne Selbstbewusstsein in den temporären „Salon“. „Dann merken sie, dass wir sie ganz normal behandeln und werden von Minute zu Minute größer. Wenn sie am Ende in den Spiegel geschaut haben, gehen sie mit erhobenenm Kopf wieder raus“, beobachtet Nysten.
Ihren schwierigsten Einsatz hatte Nysten im Amsterdamer Rotlichtbezirk, den traurigsten auf Mallorca. „Da waren sehr viele obdachlose Kinder“, sagt sie. „Ich habe nicht gewusst, dass es das nur eine Straße neben dem Ballermann gibt.“ Wenn sie nach Hause komme, sei sie sehr dankbar für ihr eigenes Leben. Sie habe eine warme Wohnung, einen gefüllten Kühlschrank und eine Dusche. Das ist weit mehr als ihre Gäste haben.
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