Gerold König, 1954 in Oberhausen geboren und heute in Langerwehe (Kreis Düren) zu Hause, wurde 2021 erstmals zum Bundesvorsitzenden von Pax Christi gewählt und im vorigen Jahr in seinem Amt bestätigt. Wie beurteilt er die umstrittene Aufforderung von Papst Franziskus an die Ukraine, die weiße Flagge zu hissen, und die Anregung von Bundestagsmitglied Rolf Mützenich, den Krieg zwischen der Ukraine und Russland „einzufrieren“? Und wo sieht König die Möglichkeiten von Pax Christi? Darüber sprach Gerd Felder mit Gerold König.
Herr König, sprechen wir in Talkshows und Podiumsdiskussionen über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu viel über Waffen?
Ja, wir sprechen zu viel über Waffen und folgen zu sehr der Militärlogik. Auch Rolf Mützenich hat mit seiner Anregung, den Krieg „einzufrieren“, nicht die Kapitulation der Ukraine und die Anerkennung der derzeitigen Frontlinien gemeint. Er hat lediglich gesagt, dass eine Ebene geschaffen werden muss, auf der der Krieg gestoppt werden kann. Das können Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin allein nicht erreichen, sondern sie brauchen dabei die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.
Der Krieg in der Ukraine war gemäß dem Minsker Abkommen nach 2014 schon einmal für mehrere Jahre „eingefroren“, was allerdings keinen Erfolg gehabt und zu einem unvorstellbaren Blutvergießen geführt hat …
Ich kann nachvollziehen und verstehen, dass Begriffe wie „einfrieren“ missverständlich sind. Man darf nicht den Krieg weiterbrodeln lassen und beiden Seiten lediglich eine Ruhepause verschaffen. Es darf auch nicht sein, dass Landesgrenzen nicht akzeptiert werden, wie Russland es tut. Das Recht zur Selbstverteidigung darf niemand der Ukraine absprechen, denn sie kämpft für Freiheit, Demokratie und ihr Überleben. Niemand hat ein Interesse, die Ukraine zu opfern, um den Krieg zu beenden.
Ist der Krieg in Ihren Augen immer eine Niederlage, wie Papst Franziskus es dauernd betont?
Der Krieg ist immer eine Niederlage der Menschlichkeit. Wenn wir nicht miteinander reden können, greifen wir zu den Waffen. Das ist falsch. Wir müssen schon im Schulunterricht damit anfangen, friedens- und gesprächsfähig zu werden.
Wie bewerten Sie die Äußerung des Papstes, die Ukraine möge die weiße Flagge hissen?
Unser Verband Pax Christi hat im Gegensatz zu vielen anderen aus Kirche und Politik die Äußerung des Papstes begrüßt, und ich tue das auch. Papst Franziskus hat deutlich gemacht, dass das Blutvergießen in der Ukraine endlich aufhören muss und Verhandlungen geführt werden müssen. Die weiße Flagge ist in meinen Augen kein Symbol der Kapitulation, sondern des Willens zu Verhandlungen. Alle Politiker, die den Papst deswegen kritisieren, haben Unrecht, weil Franziskus einfach nur zum Frieden aufgerufen hat. Dass Zigtausende junger Menschen auf ukrainischer wie russischer Seite geopfert werden, darf nicht so weitergehen.
Müssten sich die Forderungen mit Blick auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine nicht zuerst an die russische Seite richten?
Ich stimme Ihnen zu: Wladimir Putin muss zuallererst seine Truppen an die russischen Landesgrenzen zurückziehen. Es gibt niemals ein Recht, die Grenzen eines Zweit- oder Drittlandes zu überschreiten. Das ist Unrecht, das ein Blutvergießen ohne Ende zur Folge hat. Der Krieg muss aber an ein Ende kommen.
Putin hat aber immer wieder zu erkennen gegeben, dass er nicht verhandeln will. Wie stellen Sie sich das vor?
Putin will nicht verhandeln, aber trotzdem muss die internationale Völkergemeinschaft Wege der Diplomatie gehen und zum Beispiel mit China und anderen reden, die Einfluss auf ihn nehmen und dafür sorgen könnten, dass er sich für Verhandlungen öffnet.
Gibt es auch bei Pax Christi verschiedene Meinungen und Positionen?
Bei Pax Christi gibt es wie bei der gesamten Friedensbewegung zwei Pole – die lupenreinen Pazifisten und die Pragmatiker – und die wird es immer geben. Wir versuchen Zwischenschritte und Grautöne sichtbar zu machen, die es zwischen beiden Seiten gibt. Und wir versuchen auch Putin zu ermuntern, die Ukraine zu verstehen, und deutlich zu machen, dass jede Waffe Menschen tötet. Je mehr Waffen wir liefern, desto mehr wird der Krieg in eine Situation kommen, in der er nicht mehr weiterzuführen ist. Außerdem besteht die Gefahr, dass wir mit Deutschland Kriegspartei werden. Bundeskanzler Olaf Scholz wird in den Medien oft als Zauderer hingestellt, aber ich muss ihm recht geben: Es ist gut, zu zögern. Es darf keine Unterstützung der Ukraine um jeden Preis geben.
Trotzdem bleibt das große Problem, wie man mit jemandem verhandeln soll, der alle Verträge und Vereinbarungen gebrochen hat und nur die Sprache der Gewalt versteht. Wie sehen Sie das?
Ich möchte das einmal folgendermaßen vergleichen: Es gibt Intensivstraftäter, die nur Gewalt kennen. Bei ihnen gibt es die Möglichkeit, sie einfach wegzusperren, wobei wir wissen, dass dabei wenig herauskommt. Wir können ihnen aber auch Menschen an die Seite stellen, die versuchen, Verständnis für sie aufzubringen, und auf die sie hören. Zu den Menschen, mit denen Putin spricht, gehört der Moskauer Patriarch Kyrill, der aus einer Tradition kommt, die eigentlich keinen Krieg zulassen darf. Es käme darauf an, ihn ernst zu nehmen und ihm die Kriegstreiberei auszureden, denn es wird uns letztlich nur durch die Hintertür gelingen, zum Frieden zu kommen.
Kommen wir zu dem anderen großen Krieg, der uns in dieser Zeit besonders bewegt. Wie stehen Sie zum Krieg Israels gegen die Hamas?
Der Terrorschlag der Hamas gegen Israel war menschenunwürdig, ein brutaler und mörderischer Angriff auf das Existenzrecht Israels. Er hat alles in den Schatten gestellt, was im Nahen Osten bislang passiert ist. Deshalb hat Israel ein Selbstverteidigungsrecht und muss und darf dafür sorgen, dass so etwas nicht noch einmal geschieht. Aber dieser Krieg dauert inzwischen schon viel zu lang und fordert viel zu viele Tote im Gaza-Streifen. Vor allem aber werden die eigentlichen Rädelsführer der Hamas durch diese Militäroperation gar nicht erreicht. Es ist unmenschlich, die Zivilbevölkerung so stark mit einzubeziehen und in die Enge zu treiben. Deshalb muss dringend eine Waffenruhe kommen, und auch dieser Krieg muss beendet werden. Eine Bodenoffensive gegen Rafah darf es nicht geben.
Wie ist das damit zu vereinbaren, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsraison ist?
Zweifelsohne haben wir Israel gegenüber eine besondere Verpflichtung, die sich aus der Geschichte ergibt. Wir haben uns den Herausforderungen des Massenmordes von Auschwitz gestellt und aufgearbeitet, was Deutsche dort Furchtbares getan haben. Das eine Unrecht lässt sich aber durch das andere Unrecht nicht aufheben. Unsere Solidarität mit Israel darf nicht dazu führen, ein Unrecht zu rechtfertigen oder zu unterstützen, was Israel begeht. Man sollte auch immer unterscheiden zwischen Israel und dem israelischen Staat, der israelischen Regierung. Bei der Kritik an Israel sollte man immer vorsichtig sein, aber die Kritik an Entscheidungen der israelischen Regierung muss zulässig sein. Wie der Weltsicherheitsrat kürzlich festgestellt hat, verstößt das Vorgehen Israels gegen jegliches Recht. Das Existenzrecht Israels aber darf nicht in Frage gestellt werden.
Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Volker Beck hat Pax Christi der „Israelfeindlichkeit“ bezichtigt. Wie stehen Sie zu diesen massiven Vorwürfen?
Nach Veröffentlichung der völlig unzutreffenden Bezichtigungen der Israelfeindlichkeit durch Volker Beck hat Pax Christi in einer gemeinsamen Erklärung des Präsidenten Bischof Peter Kohlgraf und des Bundesvorsitzenden Gerold König diese Vorwürfe aufs Schärfste zurückgewiesen. Niemals wurde durch Pax Christi das Selbstverteidigungsrecht Israels infrage gestellt, und der brutale Überfall der Hamas auf Israel wurde durch uns immer wieder stark verurteilt. Pax Christi hat keinen Rüstungsboykott gefordert, wie Beck sagt, sondern einen Waffenstillstand verlangt und die Bundesregierung aufgefordert, zu prüfen, ob Waffen, die aus Deutschland geliefert wurden und werden, im Gaza-Krieg zum Einsatz kommen. Noch im April dieses Jahres hat Pax Christi als einzige Nichtregierungsorganisation in Deutschland trilaterale Gespräche mit hochrangigen Vertretern aus Israel und Palästina mit Bundestagsabgeordneten aller Parteien, mit Ausnahme der AfD, sowie Bundesministerien geführt. Die Sachlichkeit und die offene Art, wie diese Gespräche abgelaufen sind, wurden sowohl von den politischen Vertretern aus Israel und Palästina wie auch von den deutschen Gesprächspartnern gelobt. Daraus eine „Israelfeindlichkeit“ abzuleiten, ist schon ein starkes Stück.
Ist unser Interesse für die beiden genannten Kriege zu einseitig? Ist unsere Aufmerksamkeit für die anderen Kriege und Konflikte auf der Welt also zu gering?
Derzeit gibt es auf der Erde 50 Kriege und 200 Krisenherde, die sich zu Kriegen entwickeln können. Das wissen wir und nehmen wir auch wahr, aber wir sind nicht mehr bereit, es wirklich an uns heranzulassen. Ein Gefühl der Machtlosigkeit macht sich breit. Niemand nimmt mehr wahr, wie schlecht es Menschen geht, die von Kriegen betroffen sind. Warum können wir nicht darüber reden, wie viele Menschen es weltweit gibt, die infolge von Kriegen leiden und in den Tod gehen müssen? Letztlich stellt sich damit auch die Osterfrage, denn Jesus ist für uns ans Kreuz geschlagen worden.
Worin sehen Sie angesichts dessen die Aufgabe von Pax Christi?
Die Aufgabe von Pax Christi besteht darin, das Bewusstsein für die Kriege weltweit wachzuhalten, unter anderem für die in Ecuador, Mexiko oder Zentralafrika. Wir müssen die Frage stellen: Wie können Kriege verhindert werden? Der zivile Friedensdienst als Präventionsdienst wird viel zu wenig wahrgenommen, obwohl solche Friedensdienste ein anderes Denken über Gewalt deutlich machen könnten. Unser Land braucht Fachkräfte für den Frieden, die im Zweifelsfall tätig werden können, und eine zivile Konfliktberatung.